Ministerialblatt (MBl. NRW.)
Ausgabe 2024 Nr. 38 vom 5.12.2024 Seite 1073 bis 1084
Richtlinien für freiheitsentziehende Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz im Land Nordrhein-Westfalen (Abschiebungshaftrichtlinie – AHaftRL) |
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Richtlinien für freiheitsentziehende Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz im Land Nordrhein-Westfalen (Abschiebungshaftrichtlinie – AHaftRL)
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Richtlinien für freiheitsentziehende
Maßnahmen
nach dem Aufenthaltsgesetz im Land Nordrhein-Westfalen
(Abschiebungshaftrichtlinie – AHaftRL)
Runderlass
des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und
Integration
Vom 9. September 2024
1
Anwendungsbereich
Freiheitsentziehende Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 20. Dezember 2023 (BGBl. I Nr. 390) geändert worden ist, und nach Artikel 28 Absatz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABI. L 180, vom 29.6.2013, S. 31, L 49 vom 25.2.2017, S. 50) in Verbindung mit § 2 Absatz 14 des Aufenthaltsgesetzes werden in Nordrhein-Westfalen gemäß § 62a Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes und § 1 Absatz 1 Satz 1 des Abschiebungshaftvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen vom 17. Dezember 2015 (GV. NRW. S. 901), das zuletzt durch Artikel 13 des Gesetzes vom 1. Februar 2022 (GV. NRW. S. 122) geändert worden ist, in besonderen Abschiebungshafteinrichtungen (Unterbringungseinrichtungen) des Landes vollzogen. Seit dem 15. Mai 2015 wird Abschiebungshaft in der Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige (UfA) in Büren durchgeführt, die Bestandteil der Bezirksregierung Detmold ist.
Die Dienst- und Fachaufsicht über die Unterbringungseinrichtungen für Ausreisepflichtige obliegt dem für Ausländer- und Asylangelegenheiten zuständigen Ministerium.
Der sich an die gerichtliche Anordnung anschließende Vollzug von Abschiebungshaft in einer Unterbringungseinrichtung ist im Abschiebungshaftvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen geregelt. Der Vollzug ist deshalb nicht Gegenstand dieser Abschiebungshaftrichtlinien.
Diese Abschiebungshaftrichtlinien sind auch dann anzuwenden, wenn Maßnahmen auf Ersuchen einer anderen Behörde in Amtshilfe durchgeführt werden.
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Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Haftvermeidung
Für die unter Nummer 1 genannten freiheitsentziehende Maßnahmen gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und sie stellen unter Verhältnismäßigkeitsaspekten das äußerste Mittel (ultima ratio) dar, um die im Aufenthaltsgesetz normierten Haftzwecke zu erfüllen.
Mildere Mittel sind insbesondere Meldeauflagen, räumliche Aufenthaltsbeschränkungen, Garantien durch Vertrauenspersonen (Bürgen) sowie die Vereinbarung von Sicherheitsleistungen, mit denen sichergestellt wird, dass sich die ausreisepflichtige Person im vorgesehenen Abschiebungszeitraum bereithält und die Maßnahme nicht durch Untertauchen oder einen unerlaubten Wechsel des Aufenthaltsortes scheitern wird.
Eine Haftvermeidung durch den Einsatz eines Bürgen kann in Betracht kommen, wenn
a) sich eine dritte Person, die das Vertrauen der abzuschiebenden Person und der Ausländerbehörde genießt (zum Beispiel Seelsorger, eine im Rahmen der psychosozialen Betreuung tätige Person oder eine in der Abschiebungshaftanstalt bekannte ehrenamtliche Person), um die Belange der betroffenen Person außerhalb der Haft kümmern will,
b) eine Wohnung, auch zum Beispiel eine Gemeinschaftsunterkunft, im Zuständigkeitsbereich der Ausländerbehörde vorhanden ist, unter deren Anschrift die ausländische Person für die Ausländerbehörde erreichbar ist und
c) die ausländische Person glaubhaft macht, sich regelmäßig bei der Ausländerbehörde zu festgesetzten Terminen zu melden.
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfordert eine ebenso umfassende wie sorgfältige Prüfung der Voraussetzungen für eine Beantragung von freiheitsentziehenden Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Bei der Interessenabwägung ist zu bedenken, dass das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem öffentlichen Interesse mit zunehmender Dauer der Haft regelmäßig zunimmt. Andererseits ist die Ausländerbehörde nicht verpflichtet, ein im Einzelfall erkennbar untaugliches Mittel der Haftvermeidung zu ergreifen.
Im Haftantrag ist darzulegen, dass Haftalternativen geprüft worden sind.
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Absehen von freiheitsentziehenden Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz
Von einem Antrag auf die unter Nummer 1 genannten freiheitsentziehenden Maßnahmen ist grundsätzlich abzusehen
a) bei ausländischen Personen, die das 65. Lebensjahr vollendet haben,
b) bei Schwangeren und Müttern innerhalb der gesetzlichen Mutterschutzfristen sowie bei stillenden Frauen, wobei die Haftfähigkeit bei Schwangeren immer ärztlich (vornehmlich durch eine Ärztin) festzustellen ist,
c) bei Minderjährigen,
d) bei Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern und
e) bei beiden Elternteilen von Familien mit minderjährigen Kindern (leiblich oder adoptiert).
Soweit bei Eltern mit einem oder mehreren minderjährigen Kindern die Betreuung des Kindes oder der Kinder sichergestellt und im Einzelfall die Anordnung von Abschiebungshaft unerlässlich ist, darf nur ein Elternteil in Haft genommen werden.
Vor der Inhaftierung von Minderjährigen sind unter Beachtung des besonderen Schutzauftrages das nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch - Kinder und Jugendhilfe - in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022) in der jeweils geltenden Fassung zuständige Jugendamt sowie das Jugendamt am Haftort unverzüglich zu benachrichtigen. Dies gilt auch, wenn eine von der ausländischen Person behauptete Minderjährigkeit von der Ausländerbehörde nicht festgestellt wird.
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Haftfähigkeit
Haftunfähigkeit steht einem Antrag auf die unter Nummer 1 genannten freiheitsentziehenden Maßnahmen entgegen.
Um Aufschluss über den gesundheitlichen Zustand zu bekommen, sind die ausreisepflichtigen Personen möglichst noch vor Stellung des Haftantrags zu gesundheitlichen Einschränkungen und insbesondere auch zu Substanzmittelabhängigkeiten zu befragen.
Ergeben sich Hinweise auf gesundheitliche Einschränkungen, ist vor Stellung des Haftantrages der medizinische Dienst der aufnehmenden Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige zu kontaktieren und sind die Möglichkeiten einer Unterbringung zu besprechen.
Bei Anhaltspunkten für erhebliche gesundheitliche Einschränkungen aufgrund einer körperlichen und beziehungsweise oder psychischen Erkrankung der ausländischen Person empfiehlt es sich, eine Aussage zur Haftfähigkeit durch einen Facharzt beziehungsweise eine Fachärztin - möglichst der einschlägigen Fachrichtung - von der zuständigen Ausländerbehörde vor Stellung des Haftantrags einzuholen und der Unterbringungseinrichtung zur eigenen Bewertung zukommen zu lassen.
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Beschleunigungsgebot
Die Haft ist auf das unbedingt erforderliche Maß zu beschränken. Die Ausländerbehörde ist daher gehalten, die Rückführung so schnell als möglich ohne unnötige Verzögerungen zu betreiben.
In Fällen, in denen die rückzuführende Person in Strafhaft ist, muss die Ausländerbehörde bereits während der Haft oder sonstigen Freiheitsentziehung unverzüglich alle Maßnahmen für die Vorbereitung der Rückführung, insbesondere für die Beschaffung der Heimreisedokumente, veranlassen, um eine an die Strafhaft oder sonstige Freiheitsentziehung anschließende freiheitsentziehende Maßnahme nach dem Aufenthaltsgesetz möglichst zu vermeiden.
Darüber hinaus ist insbesondere bei Untersuchungshaft und bei Ersatzfreiheitstrafen ein ständiger Kontakt mit den Justizvollzugseinrichtungen aufrecht zu erhalten, um rechtzeitig von dort über Haftprüfungstermine oder Entlassungstermine informiert zu werden, damit im Falle der Freilassung eine Inempfangnahme durch die Ausländerbehörde zwecks Beantragung von freiheitsentziehenden Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz möglich bleibt. Bei organisatorischen Schwierigkeiten ist die Amtshilfe anderer Ausländerbehörden in Anspruch zu nehmen.
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Freiwillige Ausreise aus der Abschiebungshaft
Sofern die Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise glaubhaft gemacht wurde und alle notwendigen Maßnahmen hierfür von der untergebrachten Person veranlasst wurden, kann die zuständige Ausländerbehörde eine freiwillige Ausreise aus der Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige unter Berücksichtigung der rechtlichen Vorgaben zulassen. An die Glaubhaftmachung der Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise sind unter Berücksichtigung der konkreten Haftgründe und der Bewertung der bislang bereits vor der Haftanordnung unterbreiteten Angebote zur freiwilligen Ausreise erhöhte Anforderungen zu stellen.
Ein Anspruch auf freiwillige Ausreise aus der Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige besteht nicht. In Fällen des Ausreisegewahrsams soll der ausländischen Person aber die freiwillige Ausreise ermöglicht werden.
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Aufnahmeersuchen an die Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige
Der Unterbringungseinrichtung ist als Voraussetzung für eine geordnete Unterbringung, spätestens ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe des Haftbeschlusses, ein vollständig ausgefülltes Aufnahmeersuchen zu übersenden. Zudem ist eine Kopie des Haftantrages nebst Anlagen und eine unterschriebene beziehungsweise bei nordrhein-westfälischen Gerichten auch eine digital gesiegelte Ausfertigung des Haftbeschlusses spätestens bei Aufnahme an die Unterbringungseinrichtung zu übermitteln.
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Vorkehrungen zur Sicherung der persönlichen Habe der Untergebrachten
Bei der Festnahme ist darauf zu achten, dass den festgenommenen Personen, sofern dies mit vertretbarem Aufwand möglich ist, die Gelegenheit gegeben wird, ihre persönlichen Wertgegenstände, Bargeld und Dokumente mit in die Unterbringungseinrichtung zu nehmen und dort in Verwahrung zu geben. Sofern die Mitnahme nicht möglich war, können sich die untergebrachten Personen über die Unterbringungseinrichtung an die zuständigen Ausländerbehörden wenden. Diese sollen Hilfestellungen anbieten, um die persönlichen Gegenstände im Rahmen von Besuchen von Verwandten oder Vertrauenspersonen oder auf Wunsch und auf Kosten der untergebrachten Person per Post an die Unterbringungseinrichtung zu übersenden. Dabei ist zu berücksichtigen, welche Gegenstände und in welchem Umfang im Rahmen der Abschiebung mit in das Zielland genommen werden können, zum Beispiel Gepäckbegrenzung.
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Feststellung der Reisefähigkeit
Über das Ergebnis einer von der Ausländerbehörde nach § 30 Absatz 7 des Abschiebungshaftvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen erbetenen Begutachtung der Reisefähigkeit wird die zuständige Ausländerbehörde schnellstmöglich unterrichtet. Diese entscheidet bei Erkrankungen, welche die Reisefähigkeit beeinträchtigen, ob die Haftanordnung aufzuheben ist.
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Geltendmachung von Haftkosten
In Amtshilfefällen, in denen Personen in der Zuständigkeit der Ausländerbehörde eines anderen Landes in Abschiebungshaft in Nordrhein-Westfalen untergebracht werden, erstellt die Unterbringungseinrichtung den Leistungsbescheid an die zuständige Ausländerbehörde des anderen Landes. In Fällen eigener Zuständigkeit der Ausländerbehörden des Landes Nordrhein-Westfalen erstellen die zuständigen Ausländerbehörden den Leistungsbescheid an die untergebrachten Personen. Die zuständige Ausländerbehörde erhält von der Unterbringungseinrichtung eine Aufstellung über die angefallenen Haftkosten.
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Berichtspflichten
Die Unterbringungseinrichtungen führen eine Statistik über die bei ihnen vollzogenen Haftfälle.
In den Fällen der Haftentlassung ist der Unterbringungseinrichtung der Entlassungsgrund mitzuteilen.
Bei jeder Beantragung von Abschiebungshaft für Minderjährige ist durch die Ausländerbehörden unverzüglich an die Bezirksregierung und das für Ausländer- und Asylangelegenheiten zuständige Ministerium zu den durch die Ausländerbehörde ausnahmsweise angenommen Gründen für die Haft zu berichten.
Die Ausländerbehörde hat ergänzend über das Ergebnis ihrer Kontaktaufnahme zu dem nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch vor Ort zuständigen Jugendamt sowie dem Jugendamt am Haftort zu berichten, warum eine Inobhutnahme beziehungsweise eine Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung nicht in Betracht kommt.
Wird eine betroffene Person, die behauptet minderjährig zu sein, ohne einen Nachweis zu erbringen oder erbringen zu können, von der Ausländerbehörde als offensichtlich volljährig eingestuft, hat die Ausländerbehörde ergänzend darzulegen, worauf sie diese Einschätzung stützt.
Die Evaluation der nordrhein-westfälischen Abschiebungshaftfälle wurde mit separatem Runderlass geregelt.
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Inkrafttreten
Dieser Runderlass tritt am Tag nach der Veröffentlichung in Kraft.
- MBl. NRW. 2024 S. 1077