Historische SMBl. NRW.

 Aufgehobener Erlass: Aufgehoben durch RdErl. v. 3.2.2004 - MBl.NRW. 2004 S. 229 (neue Gl.Nr. 2056)

 


Historisch: Bearbeitung sexueller Gewaltdelikte gegen Frauen RdErl. d. Innenministers v. 10. 7. 1989 - IV A 4 – 6503

 

Historisch:

Bearbeitung sexueller Gewaltdelikte gegen Frauen RdErl. d. Innenministers v. 10. 7. 1989 - IV A 4 – 6503

Bearbeitung sexueller Gewaltdelikte gegen Frauen
RdErl. d. Innenministers v. 10. 7. 1989 - IV A 4 – 6503

Allgemeines

In den letzten Jahren sind sexuelle Gewalttaten gegen Frauen zunehmend in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Untersuchungen belegen einen Widerspruch zwischen der Schwere und den Folgen der Rechtsverletzung für die Opfer und der Behandlung durch die Strafverfolgungsorgane.

Ziel dieses Erlasses ist es, eine vorurteilsfreie, sachorientierte Ermittlungsarbeit zu fördern, die auf die psychische Belastung der Opfer besondere Rücksicht nimmt.

Mit dieser Zielsetzung sind bei der Bearbeitung sexueller Gewaltdelikte gegen Frauen folgende Grundsätze zu beachten:

1
Verhalten bei der Anzeigenerstattung

Tataufklärung sowie Einstellung des Opfers zur Tat und ihren Folgen werden wesentlich von den Erstkontakten mit der Polizei bestimmt. In dieser Situation sind Einfühlungsvermögen und Zurückhaltung geboten.

Fahndungsmaßnahmen sind mit Nachdruck einzuleiten. Das Opfer soll erkennen können, dass der Einsatz der Polizei der Schwere des Delikts angemessen ist, und zwar auch dann, wenn sich der Wahrheitsgehalt der Aussagen noch nicht beurteilen lässt.

Die Erstbefragung des Opfers hat sich, auf den groben Sachverhalt, den Ort und den Zeitpunkt der Tat sowie auf Hinweise zu Tätern, Zeugen und möglichen Tatspuren zu beschränken.

Fragen zu den persönlichen Verhältnissen des Opfers, zur Vorgeschichte der Tat und zu Einzelheiten des Tathergangs sind zu diesem Zeitpunkt unnötig. Die Äußerung von Zweifeln am Wahrheitsgehalt der Angaben oder Vorwürfe gegen das Opfer haben zu unterbleiben. Es sollte auf die Möglichkeit hingewiesen werden, eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen oder hinzuzuziehen.

Soweit erforderlich, ist eine ärztliche Betreuung zu vermitteln; eine schnelle Weiterbearbeitung durch das zuständige Kommissariat der Kriminalpolizei ist sicherzustellen.

Beamte und Beamtinnen, die mit Opferkontakten rechnen müssen, können Empfehlungen für ein sachgerechtes Verhalten dem beiliegenden Merkblatt entnehmen.

Die Polizeibehörden stellen sicher, daß der Inhalt dieses Merkblattes den Polizeibeamten in geeigneter Weise, z. B. in Dienstbesprechungen, verdeutlicht wird.

Das Merkblatt ist von den Behörden mit den Anschriften anerkannter privater oder öffentlicher Einrichtungen zu ergänzen, die sich der Betreuung von Opfern sexueller Gewaltdelikte widmen.

2
Sachbearbeitung

Die Bearbeitung sexueller Gewaltdelikte ist grundsätzlich speziell ausgebildeten Sachbearbeitern/-innen zu übertragen. Mit dieser Aufgabe sind nur Beamte/-innen zu betrauen, die sich durch vorurteilsfreie Haltung, Einfühlungsvermögen, Toleranz und Gesprächsfähigkeit auszeichnen.

Frauen als Opfer sexueller Gewalttaten sind ausdrücklich auf die Möglichkeit hinzuweisen, sich - ggf. später - durch eine Frau vernehmen zu lassen. Die Behörden stellen sicher, daß im Rahmen der personellen Möglichkeiten geschulte Beamtinnen zur Verfügung stehen. Dabei sind auch Beamtinnen außerhalb der zuständigen Kommissariate zu berücksichtigen. Bei Bedarf sind Absprachen mit Nachbarbehörden zu treffen.

Bei den Polizeibehörden ist ein Verzeichnis über die speziell ausgebildeten Sachbearbeiter/-innen vorzuhalten, auf das jederzeit zurückgegriffen werden kann.

3
Vernehmung des Opfers

Bei der Vernehmung ist auf die seelische Ausnahmesituation des Opfers Rücksicht zu nehmen. Daher ist eine Vernehmungssituation zu schaffen, die frei von äußeren Störungen, Misstrauen und Vorwürfen ist. Durch verständnisvolle Haltung, Geduld und Ruhe soll eine Atmosphäre des Vertrauens erreicht werden, die dem Opfer die Schilderung der Tat erleichtert.

Auf Wunsch des Opfers ist der Anwesenheit einer Person seines Vertrauens bei der Vernehmung grundsätzlich stattzugeben. Steht aber das Opfer zu dieser Person in einem Abhängigkeitsverhältnis, so ist in deren Abwesenheit zu klären, ob sie bei der Vernehmung anwesend sein soll.

Opfer sexueller Gewalttaten sollen darüber informiert werden, warum polizeiliche Maßnahmen erforderlich und auch den Intimbereich berührende Fragen notwendig sind. Auf die Möglichkeiten der Geschädigten nach dem Opferschutzgesetz ist hinzuweisen.

Vernehmungen des Opfers sind durchgehend von demselben Beamten/derselben Beamtin durchzuführen. Ein Wechsel während der Vernehmung hat grundsätzlich zu unterbleiben. Bei Folgevernehmungen sind dem Opfer die Gründe hierfür darzulegen.

4
Weitere Maßnahmen

Grundsätzlich ist von einer direkten Gegenüberstellung des Opfers mit Tatverdächtigen abzusehen. Wahlgegenüberstellungen sind so durchzuführen, daß das Opfer von den Teilnehmern nach Möglichkeit nicht gesehen wird.

Wahllichtbildvorlagen sind mit Rücksicht auf das Opfer zeitlich zu begrenzen, um eine Überforderung zu vermeiden.

Ist eine intensive Spurensuche am Opfer erforderlich, sollte sie ihm erläutert werden. Eine Beeinträchtigung der Intimsphäre ist möglichst zu vermeiden. Für die Beweisführung bei körperlichen Verletzungen ist im Regelfall eine genaue ärztliche Beschreibung ausreichend. Fotoaufnahmen vom Genitalbereich haben grundsätzlich zu unterbleiben.

5
Aus- und Fortbildung

Die Problematik sexueller Gewalt gegen Frauen und die Auswirkung polizeilichen Verhaltens auf die Opfer wird in die polizeiliche Grundausbildung aufgenommen.

In der Fachhochschulausbildung ist das Thema auf der Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse verstärkt in den Fächern Kriminalistik/Kriminologie/Strafrecht/Psychologie zu behandeln.

Die Leiter der zuständigen Kommissariate sowie die mit der Bearbeitung dieser Delikte betrauten Sachbearbeiter/-innen der Kriminalpolizei werden in speziellen Seminaren an der Landeskriminalschule mit dem aktuellen Erkenntnisstand zu diesem Problembereich vertraut gemacht.

6
Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaften, Hilfsorganisationen und Ärzten

Die Staatsanwaltschaft (Sonderdezernat für die Verfolgung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung) ist zum frühestmöglichen Zeitpunkt in die Ermittlungen einzuschalten.

Private Selbsthilfeorganisationen leisten betroffenen Frauen sachkundige Hilfe bei der Bewältigung der erlebten Krisensituation und der unvermeidlichen Belastung durch das Ermittlungsverfahren. Die zuständigen Kommissariate haben mit diesen Institutionen ständigen Kontakt zu halten.

Zur Gewährleistung einer sachgerechten und opferorientierten Spurensuche und -sicherung sind von den Behörden die Aufträge zu den notwendigen ärztlichen Untersuchungen möglichst auf wenige medizinische Einrichtungen mit entsprechendem Fachpersonal zu konzentrieren. Durch enge Kontakte mit diesen Einrichtungen ist das Untersuchungspersonal über die kriminalistischen Beweisanforderungen zu informieren. Diese Anforderungen sind vom Landeskriminalamt auf der Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes in dem als Anlage beigefügten Merkblatt zusammengestellt worden.

7
Öffentlichkeitsarbeit

Polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit hat sich vorrangig an den Bedürfnissen der Opfer zu orientieren. Sie ist insbesondere auf den Abbau von Vorurteilen und falschen Vorstellungen vom „typischen" Vergewaltigungsdelikt, gegen Schuldzuweisungen an die Opfer und verharmlosende Tendenzen in der Berichterstattung zu richten. Sachverhalte sind wertungsfrei und hauptsächlich fahndungsorientiert darzustellen. Der Schutz der Persönlichkeit des Opfers hat Vorrang vor anderen Gesichtspunkten.

Sachkundige Beamte/-innen der Kriminalpolizei sollten in ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich verstärkt in entsprechenden Arbeitskreisen mitwirken und sich an öffentlichen Diskussionen zu der Problematik beteiligen.

MBl. NRW. 1989 S. 1014, geändert durch RdErl. v. 8.2.1990 (MBl. NRW. 1990 S. 302).


Anlagen: