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Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern in Nordrhein-Westfalen (KURS NRW) Gem. RdErl. d. Justizministeriums - 4201 – III. 18 -, d. Inneministeriums -4 – 62.12.03- u. d. Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales -III B 1 – 1211.4- (KURS)) v. 13.1.2010

Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern
in Nordrhein-Westfalen (KURS NRW)

Gem. RdErl. d. Justizministeriums - 4201 – III. 18 -, d. Inneministeriums -4 – 62.12.03- u. d.
Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales -III B 1 – 1211.4- (KURS))
v. 13.1.2010

Die als Anlage beigefügte Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern in Nordrhein-Westfalen (KURS NRW) tritt am 1. Februar 2010 in Kraft.

Anlage

zum Gem. RdErl. d. JM (4201 – III. 18), d. IM (4 – 62.12.03) und d. MAGS (III B 1 – 1211.4 (KURS)) vom 13. Januar 2010

Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern in Nordrhein-Westfalen - KURS NRW

Inhaltsübersicht

1.

Einleitung

2.

Zielgruppe

3.

Risikogruppen und Einstufung

4.

Beteiligte Stellen

5.

Verfahrensablauf

a) Regelmäßiger Unterrichtungsverlauf bei Entlassung

b) Fälle mit Bezug zu Stellen außerhalb Nordrhein-Westfalens und

     sonstige Fälle

6.

Verfahrensablauf bei den Polizeibehörden

a) Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen

b) Kreispolizeibehörden

7.

Fallkonferenz

8.

Einbeziehung von Altfällen

9.

Zusammenarbeit im Übrigen

10.

Rechtsgrundlagen für die Datenübermittlung

a) Datenübermittlung vom Justizvollzug zur Vollstreckungsbehörde

b) Datenübermittlung von der Maßregelvollzugseinrichtung zur Vollstreckungsbehörde

c) Datenübermittlung von der Vollstreckungsbehörde zur Polizei

d) Datenübermittlung von der Führungsaufsichtsstelle zur Polizei

e) Datenübermittlung zwischen Polizeibehörden

f)   Datenübermittlung von der Polizei an öffentliche Stellen, an ausländische öffentliche Stellen sowie an über- und zwischenstaatliche Stellen

11.

Evaluierung

Anlage 1

Anlage 2

1.

Einleitung

Rückfallgefährdete Sexualstraftäter bedeuten für die Gesellschaft ein großes Risiko.

Der Umgang mit solchen Sexualstraftätern stellt Polizei und Justiz vor große Herausforderungen. Die Öffentlichkeit erwartet mit Blick auf die bei einem Rückfall betroffenen hochwertigen Rechtsgüter (Leben, Leib, sexuelle Selbstbestimmung), dass das Risiko der Begehung neuer - insbesondere einschlägiger - Straftaten soweit wie möglich gemindert wird. Um dem berechtigten Bedürfnis nach wirksamem Schutz vor Rückfalltaten bestmöglich nachzukommen, kann es im Einzelfall erforderlich sein, neben den justiziellen, auf Resozialisierung und Kontrolle ausgerichteten Maßnahmen der Führungsaufsicht und der Bewährungshilfe polizeiliche Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu ergreifen.

Ziel dieser Konzeption ist die Verringerung des Rückfallrisikos von unter Führungsaufsicht stehenden Sexualstraftätern durch Standardisierung und verbindliche Ausgestaltung der bereits bestehenden Zusammenarbeit und des Informationsaustausches zwischen Strafvollzug, Maßregelvollzug, Vollstreckungsbehörde, Bewährungsaufsicht, Führungsaufsicht und Polizei. Zur Koordinierung wird beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen eine Zentralstelle eingerichtet.

2.

Zielgruppe

a)

Zielgruppe des Konzepts sind Personen, die

  • wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 174c, 176 bis 180 und 182 StGB) oder
  • wegen eines Tötungsdeliktes (§§ 211, 212 StGB) mit sexueller Motivation, auch wenn diese erst nach der Verurteilung erkennbar geworden ist, oder
  • wegen Begehung einer der vorgenannten Taten wegen vorsätzlichen Vollrausches (§ 323a StGB)

verurteilt worden sind und bei ihrer Entlassung aus dem Strafvollzug kraft Gesetzes (§ 68f Abs. 1 Satz 1 StGB) oder infolge gerichtlicher Anordnung (§ 68 Abs. 1 StGB) unter Führungsaufsicht stehen.

b)

Hinzu kommen wegen einer der unter 2 a) aufgeführten Straftaten Verurteilte, die kraft Gesetzes gemäß § 67b Abs. 2, § 67c oder § 67d Abs. 2 bis 6 StGB unter Führungsaufsicht stehen. Die von diesem Personenkreis zu erwartenden Risiken sind ambivalent zu bewerten. So wird zum Beispiel eine weitere Vollstreckung der Unterbringung in einer Einrichtung des Maßregelvollzuges nur zur Bewährung ausgesetzt, wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzuges keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Gleichwohl tritt mit der Aussetzung Führungsaufsicht ein.

3.

Risikogruppen und Einstufung

a)

Nicht bezüglich aller rückfallgefährdeten Personen sind dieselben personal- und auch zeitintensiven Maßnahmen erforderlich und verhältnismäßig. Um Art und Umfang der nach der Entlassung erforderlichen präventiven Maßnahmen bestimmen zu können, sollen diese Personen Risikogruppen zugeordnet werden. Für die Einstufung sind unter anderem folgende Kriterien von Bedeutung:

Täterbezogene Kriterien:

·        einschlägige Vorstrafen

·        Steigerung der Sexualdelinquenz

·        Alter bei (erstem) Sexualdelikt

·        Beziehungsproblematik

·        eigene Opfererfahrung im Bereich der Sexualdelinquenz

·        bekannte psychische Erkrankungen / Unterbringungen in psychiatrischen Einrichtungen

·        frühere therapeutische Interventionen

Tatbezogene Kriterien:

·        Art und Schwere der begangenen Tat

·        Gewaltausübung bei der Tat

·        Vorbeziehung zwischen Täter und Opfer / Opferauswahl

·        Altersdifferenz zwischen Täter und Opfer

·        Anzahl der Opfer / Taten

·        Suchtmittelproblematik

Vollzugliche Entwicklung:

·        therapeutische / behandlerische Maßnahmen

·        Auffälligkeiten während des Vollzuges

·        Vollzugslockerungen

·        Entlassungsentscheidung

·        Entlassungssituation / sozialer Empfangsraum.

b)

Es werden drei Risikogruppen unterschieden:

Risikogruppe A

In dieser Risikogruppe werden Verurteilte erfasst, bei denen zu befürchten ist, dass sie jederzeit erneut eine erhebliche einschlägige Straftat begehen. Es liegen wenige stabile bzw. keine das Rückfallrisiko mindernde Bedingungen vor. Deshalb ist von einer hohen Gefährlichkeit auszugehen.

Risikogruppe B

In diese Risikogruppe werden Verurteilte aufgenommen, bei denen zu befürchten ist, dass sie bei Gefährdung oder Wegfall zurzeit angenommener vorbeugend wirksamer Bedingungen erneut eine einschlägige Straftat begehen. Ohne diese vorbeugend wirkenden Bedingungen ist von einer hohen Gefährlichkeit auszugehen.

Risikogruppe C

In dieser Risikogruppe werden alle Verurteilten erfasst, die nicht in die Risikogruppen A oder B fallen.

c)

Die erstmalige Einstufung in eine der drei Risikogruppen erfolgt bei der Entlassung aus dem Justizvollzug durch die Justizvollzugsanstalt, bei der Entlassung aus dem Maßregelvollzug durch die Einrichtung des Maßregelvollzuges.

Die Einstufung durch die Justizvollzugsanstalt orientiert sich an den Kriterien, die sich aus dem „Merkblatt zur Erstellung von Kriminalprognosen“ zu dem „Leitfaden für die Entscheidungen über die Verlegung in den offenen Vollzug, Vollzugslockerungen und Urlaub“ ergeben.

Für den Maßregelvollzug gelten bei der Einstufung die Leitlinien für die Begutachtung und Erstellung von Gutachten nach § 16 Abs. 3 MRVG NRW. Da eine Maßregel nur zur Bewährung ausgesetzt wird, wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird, erfolgt hier in der Regel initial eine Zuordnung in die Risikogruppe C.

d)

Die Einstufung in eine bestimmte Risikogruppe ist nicht abschließend. Neue Erkenntnisse können zu einer Neubewertung führen. Die Zuordnung zu einer niedrigeren Risikogruppe wird insbesondere in Betracht kommen, wenn neue stabilisierende Faktoren (wie z. B. stabile soziale Bindungen, Aufnahme oder erfolgreiche Durchführung von Therapiemaßnahmen) vorliegen. Eine Zuordnung zu einer höheren Risikogruppe kann insbesondere dann vorzunehmen sein, wenn neue Erkenntnisse über destabilisierende Faktoren (wie z.B. Verstoß gegen Weisungen der Führungsaufsicht, Missbrauch von Suchtmitteln, Verlust von Arbeitsplatz oder Wohnung, Zerbrechen einer Beziehung oder Abbruch sonstiger sozialer Kontakte) vorliegen.

Über Neubewertungen stimmen sich die beteiligten Stellen im Rahmen einer Fallkonferenz (vgl. dazu Abschnitt 7) ab. Eine aufgrund der Fallkonferenz erfolgte Neubewertung teilt die Kreispolizeibehörde unverzüglich der Zentralstelle mit.

4.

Beteiligte Stellen

Beteiligte Stellen sind je nach Fallkonstellation und Zuständigkeit

  • Justizvollzugsanstalt
  • Einrichtung des Maßregelvollzuges
  • forensische Ambulanz
  • Vollstreckungsbehörde (Staatsanwaltschaft oder Jugendrichter als Vollstreckungsleiter)
  • Staatsanwaltschaft
  • Landeskriminalamt NRW
  • Kreispolizeibehörde
  • Führungsaufsichtsstelle / Ambulanter Sozialer Dienst der Justiz (Fachbereich Führungsaufsicht).

5.

Verfahrensablauf

a)

Regelmäßiger Unterrichtungsverlauf bei Entlassung

(1)

Spätestens vier Monate vor der Entlassung einer der Zielgruppe zuzurechnenden Person leitet die Justizvollzugsanstalt beziehungsweise Einrichtung des Maßregelvollzugs der Vollstreckungsbehörde aussagekräftige Unterlagen zu, insbesondere

Justizvollzugsanstalt:

  • Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt zur Strafaussetzung zur Bewährung, zur Führungsaufsicht, zur Gewährung von Vollzugslockerungen
  • Gutachten zu Vollzugslockerungen oder gemäß § 454 Abs. 2 StPO
  • Einstufung in eine der Risikogruppen, versehen mit dem Hinweis "KURS NRW" - dazu dient das als Anlage 1 beigefügte Formular;

Einrichtung des Maßregelvollzugs:

·        Ergebnis des letzten Gutachtens gemäß § 16 Abs. 3 MRVG NRW

·        letzte Stellungnahmen der Klinik an die Strafvollstreckungskammer

·        Einstufung in eine der Risikogruppen, versehen mit dem Hinweis "KURS NRW" und auf die voraussichtlich zuständige forensische Ambulanz; dazu dient das als Anlage 1 beigefügte Formular.

Zugleich informiert die Justizvollzugsanstalt beziehungsweise Einrichtung des Maßregelvollzugs das Landeskriminalamt NRW von der Absendung der Unterlagen und unterrichtet den Betroffenen von seiner Aufnahme in KURS NRW.

(2)

Von der anstehenden Entlassung unterrichtet die Vollstreckungsbehörde die Führungsaufsichtsstelle und das Landeskriminalamt NRW mindestens drei Monate vor der Entlassung. Dabei übermittelt die Vollstreckungsbehörde Kopien

·        des dem Strafvollzug beziehungsweise Maßregelvollzug zugrunde liegenden Urteils und

·        der unter Abschnitt 5 a) (1) aufgezählten, von der Justizvollzugsanstalt beziehungsweise der Einrichtung des Maßregelvollzugs zur Verfügung gestellten Unterlagen.

Gemäß § 54a Abs. 2 Satz 2 StVollstrO unterrichtet die Vollstreckungsbehörde die Führungsaufsichtsstelle über ihre - drei Monate vor der Entlassung gegenüber dem Gericht abzugebende - Stellungnahme zu der Frage, ob die Maßregel der Führungsaufsicht wegen verbesserter Sozialprognose gemäß § 68f Abs. 2 StGB entfallen kann. Der Abschrift der Stellungnahme sind Abschriften des Urteils und der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt beizufügen.

(3)

Die Vollstreckungsbehörde übersendet dem Landeskriminalamt NRW unverzüglich eine Ablichtung des rechtskräftigen Führungsaufsichtsbeschlusses. Die Führungsaufsichtsstelle teilt dem Landeskriminalamt NRW unverzüglich mit, wer die zuständige Fachkraft des ambulanten Sozialen Dienstes der Justiz (Fachbereich Führungsaufsicht) ist.

(4)

Die Führungsaufsichtsstelle kann von allen öffentlichen Behörden Auskunft verlangen und Ermittlungen jeder Art selbst vornehmen oder durch andere Behörden im Rahmen ihrer Zuständigkeit vornehmen lassen (§ 463a Abs. 1 Satz 1 StPO). Die Führungsaufsichtsstelle bittet daher zu Beginn der Führungsaufsicht das Landeskriminalamt NRW, ihr unverzüglich alle polizeilichen Erkenntnisse über die rückfallgefährdete Person mitzuteilen.

Die Führungsaufsichtsstelle prüft, ob die Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht ergänzt oder geändert werden sollten und gibt gegebenenfalls eine entsprechende Stellungnahme gegenüber dem Gericht ab.

Die Führungsaufsichtsstelle prüft in jedem Einzelfall eine Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung nach § 463a Abs. 2 StPO.

Die Führungsaufsichtsstelle, forensische Ambulanz und das Landeskriminalamt NRW unterrichten sich über bevorstehende oder vollzogene Wohnsitzwechsel der rückfallgefährdeten Person; weiter gehende Mitteilungsmöglichkeiten (z.B. nach § 30 PolG NRW) bleiben unberührt.

(5)

Die Staatsanwaltschaft informiert das Landeskriminalamt NRW, wenn ihr auf anderem Wege (z.B. aus einem neuen Ermittlungsverfahren gegen die rückfallgefährdete Person) Tatsachen bekannt werden, die auf eine Gefahrenlage hinweisen.

(6)

Die Vollstreckungsbehörde teilt dem Landeskriminalamt NRW umgehend die Beendigung der Führungsaufsicht mit.

(7)

Bei den wechselseitigen Unterrichtungen ist - soweit rechtlich zulässig - vorrangig die elektronische Post zu nutzen. Die Übermittlungen sind mit dem deutlich erkennbaren Hinweis „KURS NRW“ zu versehen.

(8)

Mit dem Ende der Führungsaufsicht enden auch die Maßnahmen nach dieser Konzeption.

b)

Fälle mit Bezug zu Stellen außerhalb Nordrhein-Westfalens und sonstige Fälle

Es sind Konstellationen denkbar, in denen der oben beschriebene Unterrichtungsverlauf nicht einhaltbar ist, weil nicht alle beteiligten Stellen ihren Sitz im Land Nordrhein-Westfalen haben. In solchen Fällen sind von den in Nordrhein-Westfalen angesiedelten Stellen Mitteilungen so vorzunehmen, wie es der Zielsetzung dieser Konzeption sowie den üblichen Unterrichtungsverläufen am ehesten entspricht. Dies soll anhand folgender Konstellationen, die in der Praxis die Hauptfälle darstellen dürften, verdeutlicht werden:

(1)

Steht die Entlassung einer der Zielgruppe zuzurechnenden Person aus einer Justizvollzugsanstalt oder einer Einrichtung des Maßregelvollzuges in Nordrhein-Westfalen in ein anderes Bundesland an, so erfasst das Landeskriminalamt NRW die Person. Es teilt dem Landeskriminalamt des anderen Landes die bevorstehende Entlassung mit. Dabei übersendet es die unter Abschnitt 5 a) (1) aufgezählten, von der Justizvollzugsanstalt beziehungsweise der Einrichtung des Maßregelvollzugs zur Verfügung gestellten Unterlagen. Sobald verifiziert ist, dass die Person ihren Wohnsitz außerhalb Nordrhein-Westfalens genommen hat, liegt die Federführung beim aufnehmenden Bundesland.

(2)

Wird eine der Zielgruppe zuzurechnende Person aus der Justizvollzugsanstalt oder Maßregelvollzugseinrichtung eines anderen Bundeslandes nach Nordrhein-Westfalen entlassen, unterrichtet die Führungsaufsichtsstelle unverzüglich das Landeskriminalamt NRW. In diesen Fällen bittet das Landeskriminalamt NRW die zuständige Behörde in dem anderen Bundesland, soweit noch nicht vorhanden, Abschnitt 5 a) (1) entsprechende Unterlagen zu übersenden und veranlasst die Unterrichtung des Betroffenen von seiner Aufnahme in KURS NRW. Gleiches gilt, wenn die Führungsaufsicht über eine der Zielgruppe zuzurechnende Person aus einem anderen Bundesland übernommen wird.

Liegt in einem solchen Fall eine Einstufung in eine Risikogruppe nicht vor, ist diese von der Fallkonferenz in entsprechender Anwendung des Verfahrens gemäß Abschnitt 3 d) vorzunehmen. Die Einberufung der Fallkonferenz wird von dem Landeskriminalamt NRW veranlasst.

6.

Verfahrensablauf bei den Polizeibehörden

a) Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen

Im Landeskriminalamt NRW wird die Zentralstelle KURS NRW eingerichtet.

Sie soll insbesondere folgende Maßnahmen ergreifen:

  • Erfassen des relevanten Personenkreises
  • Erfassen, Bündeln, Bewerten und Steuern der relevanten Informationen
  • Koordinieren und Dokumentieren der polizeilichen Maßnahmen einschließlich entsprechender Rückmeldungen an die weiteren beteiligten Stellen.

Die Zentralstelle KURS NRW bewertet die Informationen und veranlasst gegebenenfalls sofort erforderliche Maßnahmen. Insbesondere übermittelt sie zeitgerecht die für die weitere Gefährdungsbewertung und zur Gefahrenabwehr erforderlichen Daten an die für die Entlassanschrift zuständige Kreispolizeibehörde.

Der Zentralstelle KURS NRW obliegt der länderübergreifende polizeiliche Informationsaustausch.

Die Zentralstelle KURS NRW berücksichtigt ihr selbst zugängliche Informationen aus polizeilichen Datensammlungen und erhebt auf der Grundlage von § 30 Abs. 2 PolG NRW notwendige Informationen bei den Justizbehörden, Polizeibehörden und weiteren öffentlichen Stellen. Die Zentralstelle KURS NRW verarbeitet diese Daten nach Maßgabe des PolG NRW in Verbindung mit den Richtlinien über die Kriminalpolizeilichen Sammlungen. Daten, die der Zentralstelle KURS NRW ausschließlich für Zwecke von KURS NRW von anderen öffentlichen Stellen übermittelt worden sind, sind von dieser unverzüglich nach Beendigung der Führungsaufsicht zu löschen.

b) Kreispolizeibehörden

Die Kreispolizeibehörden benennen dem Landeskriminalamt NRW, der Führungsaufsichtsstelle und der forensischen Ambulanz einen KURS-Ansprechpartner nebst Vertretung.

Auf der Grundlage der von Landeskriminalamt NRW übermittelten ersten Informationen nimmt die Kreispolizeibehörde eine eigene umfassende Gefährdungsbewertung vor und entscheidet über die zu ergreifenden Maßnahmen der Gefahrenabwehr. Dabei stimmt sie sich - auch um dem wichtigen Aspekt der Resozialisierung Rechnung zu tragen - mit der Führungsaufsichtsstelle ab. Insbesondere kommen folgende Maßnahmen in Betracht:

  • Überprüfen der tatsächlichen Wohnsitznahme; Feststellen des ggf. vom Wohnsitz abweichenden Aufenthaltsortes; Überprüfen der Beachtung der melderechtlichen Bestimmungen
  • Dokumentation des Wechsels des ständigen Wohn- und Aufenthaltsortes; ggf. Unterrichtung anderer Kreispolizeibehörden oder Landeskriminalämter von dem Wechsel des Wohnortes
  • Erkenntnisgewinnung zum sozialen Umfeld und zur aktuellen Lebenssituation
  • Vervollständigen und ggf. Aktualisieren der erkennungsdienstlichen Unterlagen (insbesondere Erstellung aktueller Lichtbilder) und der Unterlagen zur DNA-Analyse
  • Gefährderansprachen
  • Observation gemäß § 16 PolG NRW
  • Kontaktaufnahme mit Führungsaufsichtsstelle
  • Feststellen von Verstößen gegen Weisungen sowie Weitergabe dieser Erkenntnisse an Führungsaufsichtsstelle und ggf. forensische Ambulanz
  • Prüfen und Durchführen weiterer Maßnahmen der Gefahrenabwehr sowie sonstiger Maßnahmen aufgrund von Ersuchen der Führungsaufsichtsstelle gemäß § 463a Abs. 1 StPO
  • Prüfen und ggf. Durchführen von Maßnahmen des Opferschutzes: Aufklärungsgespräche mit potentiell gefährdeten Personen (Gefährdetenansprache); Maßnahmen des Personen- und Objektschutzes gemäß PDV 129
  • Unterrichten öffentlicher Stellen nach Maßgabe des § 28 PolG NRW
  • Zusammenarbeit und Informationsaustausch mit anderen öffentlichen Stellen nach Maßgabe der §§ 28, 30 PolG NRW.

Die Kreispolizeibehörde dokumentiert ihre Maßnahmen und meldet diese dem Landeskriminalamt NRW.

Im Zuge der Gefährderansprache soll dem Betroffenen erneut mitgeteilt werden, dass er in KURS NRW geführt wird. Dabei soll ihm, soweit dies im Einzelfall angezeigt erscheint, der wesentliche Zweck dieser Konzeption erläutert werden.

Über Gefahren abwehrende Maßnahmen, die eine der Zielgruppe zuzurechnende Person unmittelbar betreffen (z. B. Gefährderansprachen), und wesentliche neue Erkenntnisse (z. B. Wohnsitzänderung, Zusammenleben mit einer mutmaßlich gefährdeten Person) unterrichtet die Kreispolizeibehörde die zuständige Führungsaufsichtsstelle unverzüglich. Gefährderansprachen stimmt die Kreispolizeibehörde in der Regel vorab mit der Führungsaufsichtsstelle ab.

Bei Wohnortwechsel einer der Zielgruppe zuzurechnenden Person innerhalb Nordrhein-Westfalens informiert die Kreispolizeibehörde die für den neuen Wohnsitz zuständige Kreispolizeibehörde sowie das Landeskriminalamt NRW unverzüglich.

Sofern eine der Zielgruppe zuzurechnende Person ohne festen Wohnsitz aus dem Justizvollzug entlassen wird, ist zunächst die Kreispolizeibehörde zuständig, in deren Bezirk die gemäß § 463a Abs. 4 StPO zuständige Führungsaufsichtsstelle liegt. Diese Kreispolizeibehörde trifft die notwendigen Maßnahmen und dokumentiert sie. Sobald die Person einen festen Wohnsitz hat, informiert die zunächst zuständige Kreispolizeibehörde unverzüglich die für den Wohnort zuständige Kreispolizeibehörde, das Landeskriminalamt NRW, die Führungsaufsichtsstelle und die Vollstreckungsbehörde.

Die Kreispolizeibehörde informiert das Landeskriminalamt NRW rechtzeitig über die Durchführung der Fallkonferenz. Das Landeskriminalamt NRW stimmt sich mit der Kreispolizeibehörde über ihre Teilnahme ab.

7.

Fallkonferenz

a)

Im Hinblick auf in Risikogruppe A erfasste Personen ist so früh wie möglich eine Fallkonferenz durchzuführen; das Landeskriminalamt NRW veranlasst deren Einberufung. Weitere Fallkonferenzen sind anlassbezogen durchzuführen. Die Prüfung und ggf. Einberufung obliegt allen beteiligten Stellen.

Bezüglich der in den Risikogruppen B und C erfassten Personen kann eine Fallkonferenz von den beteiligten Stellen jederzeit einberufen werden.

Sofern auf Grund der polizeilichen Einschätzung, der Erkenntnisse der Führungsaufsichtsstelle und der forensischen Ambulanz eine Neubewertung der Rückfallgefahr einer Person erforderlich scheint, entscheidet hierüber ebenfalls eine Fallkonferenz.

b)

Als Beteiligte einer Fallkonferenz kommen in der Regel in Betracht:

  • Polizei
  • Führungsaufsichtsstelle / Ambulanter Sozialer Dienst der Justiz
    (Fachbereich Führungsaufsicht)
  • Justizvollzugsanstalt oder Einrichtung des Maßregelvollzuges
  • forensische Ambulanz
  • Vollstreckungsbehörde (Staatsanwaltschaft beziehungsweise
    Jugendrichter als Vollstreckungsleiter)
  • Strafvollstreckungskammer beziehungsweise Jugendrichter
    als Vollstreckungsleiter gemäß § 82 Abs. 1 Satz 2 JGG.

Es verbleibt bei den gesetzlichen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der Beteiligten für die von ihnen zu treffenden Entscheidungen. Bei den Erörterungen in der Fallkonferenz sind die datenschutzrechtlichen Bestimmungen zu beachten.

8.

Einbeziehung von Altfällen

a)

Die Führungsaufsichtsstelle prüft alle Fälle, in denen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Konzeption noch mindestens ein Jahr Führungsaufsichtsdauer verbleibt, daraufhin, ob sie die Voraussetzungen der Erfassung im Sinne des Abschnitts 2 erfüllen. Ist dies der Fall, begründet die Führungsaufsichtsstelle auf der Grundlage der ihr vorliegenden Erkenntnisse ihre vorläufige Einschätzung hinsichtlich der Einstufung der Person in eine der drei Risikogruppen in dem als Anlage 2 beigefügten Formblatt. Sie meldet die Person unter Verwendung der Anlage 2 unverzüglich dem Landeskriminalamt NRW und der Vollstreckungsbehörde sowie gegebenenfalls der forensischen Ambulanz.

Die Vollstreckungsbehörde übersendet dem Landeskriminalamt NRW unverzüglich die in Abschnitt 5 a) (1) bis (3) bezeichneten Unterlagen, soweit diese erstellt worden sind.

Hat die Führungsaufsichtsstelle eine Einstufung in Risikogruppe A oder B angeregt, beruft das Landeskriminalamt NRW eine Fallkonferenz ein, auf der die Einstufung entsprechend dem in Abschnitt 3 d) beschriebenen Verfahren erfolgt und Maßnahmen abgestimmt werden. 

Hat die Führungsaufsichtsstelle eine Einstufung in Risikogruppe C angeregt, erfasst das Landeskriminalamt NRW die Person ohne Durchführung einer Fallkonferenz in Risikogruppe C, es sei denn, eine beteiligte Stelle hält aus Gründen der Einstufung eine Fallkonferenz für erforderlich.

b)

Neubewertungen erfolgen nach dem in Abschnitt 3 d) beschriebenen Verfahren.

9.

Zusammenarbeit im Übrigen

Die in dieser Konzeption beschriebenen Meldeverpflichtungen und Meldewege lassen darüber hinaus bestehende Informationspflichten unberührt.

Auch bei Verurteilten, die nicht unmittelbar von dieser Konzeption erfasst sind, kann sich die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Stellen im Einzelfall an den Grundsätzen dieses Konzepts orientieren.

10.

Rechtsgrundlagen für die Datenübermittlung

a)

Datenübermittlung vom Justizvollzug zur Vollstreckungsbehörde

Rechtsgrundlagen für die Datenübermittlungen von den Justizvollzugsanstalten zur Vollstreckungsbehörde sind

  • für den Erwachsenenstrafvollzug § 180 Abs. 2 Nr. 2 bis 4, Abs. 4 Nr. 1, Abs. 10 StVollzG,
  • für die Sicherungsverwahrung § 130 StVollzG in Verbindung mit den
    vorbezeichneten Vorschriften und
  • für den Jugendstrafvollzug § 99 Abs. 2 Buchstaben b) bis d), Abs. 4 Buchstabe a), Abs. 10 JStVollzG NRW.

b)

Datenübermittlung von der Maßregelvollzugseinrichtung zur Vollstreckungsbehörde

Aus dem Maßregelvollzug erfolgt die Datenübermittlung an die Vollstreckungsbehörden auf der Grundlage des § 26 Abs. 2 Buchstaben b) und c) MRVG NRW.

c)

Datenübermittlung von der Vollstreckungsbehörde zur Polizei

Die Übermittlung der Daten von der Staatsanwaltschaft an das Landeskriminalamt NRW erfolgt nach § 481 Abs. 1 Satz 2 StPO in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 und 2 PolG NRW. Die Datenübermittlung durch den Jugendrichter als Vollstreckungsleiter an das Landeskriminalamt NRW stützt sich auf § 2 JGG in Verbindung mit § 481 Abs. 1 Satz 2 StPO.

d)

Datenübermittlung von der Führungsaufsichtsstelle zur Polizei

Die Übermittlung von Informationen der Führungsaufsichtsstelle an die Polizei kann im Einzelfall ihre Grundlage in § 463a Abs. 1 StPO finden. Im Übrigen ergibt sich die Befugnis aus § 14 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 13 Abs. 2 Buchstabe d) DSG NRW.

e)

Datenübermittlung zwischen Polizeibehörden

Die wechselseitige Datenübermittlung zwischen dem Landeskriminalamt NRW und den Kreispolizeibehörden erfolgt gemäß § 27 Abs. 1 PolG NRW.

f)

Datenübermittlung von der Polizei an öffentliche Stellen, an ausländische öffentliche Stellen sowie an über- und zwischenstaatliche Stellen

Die Übermittlung von Daten durch die Polizei an öffentliche, ausländische öffentliche sowie an über- und zwischenstaatliche Stellen erfolgt gemäß § 28 PolG NRW.


11.

Evaluierung

Nach Ablauf von einem Jahr nach Aufnahme des Wirkbetriebs von KURS NRW soll ein Erfahrungsbericht zu den Verfahrensabläufen, zu Fallzahlen und zur justiziell-polizeilichen Zusammenarbeit nach dieser Konzeption verfasst werden.

MBl. NRW. 2010 S. 602.


Anlagen: