Geltende Erlasse (SMBl. NRW.)  mit Stand vom 22.3.2024


Bearbeitung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung RdErl. d. Innenministeriums v. 3.2.2004 - 42 – 6503

 

Bearbeitung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung RdErl. d. Innenministeriums v. 3.2.2004 - 42 – 6503

Bearbeitung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
RdErl. d. Innenministeriums v. 3.2.2004
- 42 – 6503

1
Allgemeines

1.1
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Minderjähriger und Erwachsener - gleich welchen Geschlechts - sind in den vergangenen Jahren zunehmend enttabuisiert worden und damit weiter in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Aufgrund der Schwere dieser Delikte und ihrer Folgen für die Opfer bedarf die Behandlung durch die Strafverfolgungsorgane besonderer Behutsamkeit.

1.2
Ziel dieses Erlasses ist es, eine vorurteilsfreie, sachorientierte Ermittlungsarbeit zu fördern, die auf die psychische Belastung der Opfer besondere Rücksicht nimmt.

1.3
Mit dieser Zielsetzung sind bei der Bearbeitung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung folgende Grundsätze zu beachten:

2
Verhalten bei der Anzeigenerstattung

2.1
Tataufklärung sowie Einstellung des Opfers zur Tat und ihren Folgen werden wesentlich von den Erstkontakten mit der Polizei bestimmt. In dieser Situation sind Einfühlungsvermögen und Zurückhaltung geboten.

2.2
Erforderliche Fahndungsmaßnahmen sind mit Nachdruck einzuleiten. Das Opfer soll erkennen können, dass der Einsatz der Polizei der Schwere des Delikts angemessen ist, und zwar auch dann, wenn sich der Wahrheitsgehalt der Aussagen noch nicht beurteilen lässt.

2.3
Die Befragung durch erstbefasste nicht spezialisierte Kräfte im Zuge der Anzeigenaufnahme hat sich auf den groben Sachverhalt, den Ort und den Zeitpunkt der Tat sowie auf Hinweise zu Tätern, Zeugen und möglichen Tatspuren zu beschränken.

2.4
Fragen zu den persönlichen Verhältnissen des Opfers, zur Vorgeschichte der Tat und zu Einzelheiten des Tathergangs sind zu diesem Zeitpunkt unnötig. Die Äußerung von Zweifeln am Wahrheitsgehalt der Angaben oder Vorwürfe gegen das Opfer haben zu unterbleiben. Das Opfer soll auf die Möglichkeit hingewiesen werden, eine am Verfahren nicht beteiligte Person seines Vertrauens zu benachrichtigen oder hinzuzuziehen. Das „Merkblatt über die Rechte von Verletzten und Geschädigten im Strafverfahren“ ist auszuhändigen.

2.5
Soweit erforderlich, ist zur Beweissicherung und zur Opfernachsorge eine ärztliche Untersuchung zu veranlassen. Eine schnelle Weiterbearbeitung durch das zuständige Kriminalkommissariat ist sicherzustellen.

2.6
Neben der Beweissicherung während der ärztlichen Untersuchung des Opfers sind weitere Maßnahmen der Spurensuche und -sicherung bzw. des Spurenschutzes unverzüglich zu veranlassen.

2.7
Beamtinnen und Beamte, die Kontakte mit Opfern von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erwarten, können dem beiliegenden Merkblatt (Anlage) Empfehlungen für ein sachgerechtes Verhalten entnehmen.

3
Sachbearbeitung

3.1
Die Bearbeitung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist grundsätzlich speziell fortgebildeten Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern zu übertragen. Mit dieser Aufgabe sind nur Beamtinnen und Beamte zu betrauen, die sich durch vorurteilsfreie Haltung, Einfühlungsvermögen, Toleranz und Kommunikationsfähigkeit auszeichnen.

3.2
Bei den Polizeibehörden ist ein Verzeichnis über die speziell fortgebildeten Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter vorzuhalten, auf das jederzeit zurückgegriffen werden kann.

4
Vernehmung des Opfers

4.1
Bei der Vernehmung ist auf die seelische Ausnahmesituation des Opfers Rücksicht zu nehmen. Daher ist eine Vernehmungssituation zu schaffen, die frei von äußeren Störungen, Misstrauen und Vorwürfen ist. Durch verständnisvolle Haltung, Geduld, Ruhe und Pausen soll eine Atmosphäre des Vertrauens erreicht werden, die dem Opfer die Schilderung der Tat erleichtert. Eine rücksichtsvolle Behandlung erhöht die Aussagebereitschaft und trägt zur Wahrheitsfindung bei. Dem Opfer ist zu verdeutlichen, dass die Zeugenbelehrung kein Ausdruck des Misstrauens ist.

4.2
Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sollen darüber informiert werden, warum polizeiliche Maßnahmen erforderlich und auch den Intimbereich berührende Fragen notwendig sind.  

4.3
Auf Wunsch des Opfers ist der Anwesenheit einer Person seines Vertrauens bei der Vernehmung grundsätzlich stattzugeben, wenn der Untersuchungszweck nicht gefährdet wird. Steht aber das Opfer zu dieser Person in einem Abhängigkeitsverhältnis, so ist in deren Abwesenheit zu klären, ob sie bei der Vernehmung anwesend sein soll.

4.4
Vernehmungen des Opfers sind durchgehend von derselben Beamtin bzw. demselben Beamten durchzuführen. Ein Wechsel während der Vernehmung hat grundsätzlich zu unterbleiben.

4.5
Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind ausdrücklich auf die Möglichkeit hinzuweisen, sich - ggf. später - durch eine gleichgeschlechtliche Vernehmungsperson vernehmen zu lassen. Wünsche des Opfers hinsichtlich des Geschlechts der Vernehmungsperson sind möglichst zu berücksichtigen. Die Polizeibehörden stellen sicher, dass im Rahmen der personellen Möglichkeiten geschulte Beamtinnen zur Verfügung stehen. Dabei sind auch Beamtinnen außerhalb der zuständigen Kriminalkommissariate zu berücksichtigen.

4.6
Da mehrmalige Vernehmungen des Opfers zu einer erheblichen Belastung führen können, sind Folgevernehmungen durch eine sinnvolle Gestaltung des zeitlichen Ablaufs der Ermittlungen möglichst zu vermeiden. Wird eine Folgevernehmung erforderlich, sind dem Opfer die Gründe hierfür darzulegen.

5
Weitere Maßnahmen

5.1
Grundsätzlich ist von einer direkten Gegenüberstellung des Opfers mit Tatverdächtigen abzusehen. Wahlgegenüberstellungen sind so durchzuführen, dass das Opfer von den Teilnehmern nicht gesehen wird. Auch unbeabsichtigte Begegnungen des Opfers mit Tatverdächtigen sind möglichst zu verhindern.

5.2
Einsichtnahmen in Lichtbilder zum Zwecke der Identifizierung von Tatverdächtigen sind mit Rücksicht auf die individuelle Belastbarkeit des Opfers zeitlich zu begrenzen, um eine Überforderung zu vermeiden.

5.3
Mittels körperlicher Untersuchungen - welche im Regelfall auf Grund erforderlicher medizinischer Kenntnisse eine ärztliche Untersuchung erfordern - kann einerseits serologisches Spurenmaterial sichergestellt werden, das die Identifizierung eines Tatverdächtigen gestattet. Andererseits sind körperliche Untersuchungen geeignet, das Opfer besonders schwer zu belasten; sie bedürfen daher Behutsamkeit, Einfühlungsvermögen, Betreuung und Information. Ist eine intensive Spurensuche am Opfer erforderlich, so ist der Zweck der Untersuchung zu erläutern. Beeinträchtigungen der Intimsphäre aus Anlass der Untersuchung sind möglichst zu vermeiden.

5.4
Für die Beweisführung bei körperlichen Verletzungen ist im Regelfall eine genaue ärztliche Beschreibung ausreichend. Über die ärztliche Untersuchung hinausgehende Maßnahmen der Spurensuche und -sicherung sind zur Vermeidung einer Mehrfachbelastung des Opfers mit dieser zu verbinden. Werden dabei erforderlichenfalls Fotoaufnahmen des ganz oder teilweise unbekleideten Opfers gefertigt, sind diese in einem verschlossenen Umschlag oder gesondert geheftet zu den Akten zu nehmen.

5.5
Maßnahmen der Spurensuche und -sicherung haben auch die Bekleidung des Opfers und von Tatverdächtigen einzubeziehen. Bei der Sicherstellung von Beweismitteln, die jeweils einzeln zu verpacken sind, ist insbesondere das Berühren mit bloßen Händen zu vermeiden.

6
Opferschutz

6.1
Neben Maßnahmen zur Spurensuche und -sicherung sowie der im Einzelfall erforderlichen ärztlichen Versorgung körperlicher Verletzungen kommen besondere Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge in Betracht, wenn durch die Tat die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung besteht.

6.2
Darüber hinaus besteht nach ungeschütztem oder unzureichend geschütztem Sexualkontakt die Möglichkeit, Empfängnis verhütende Maßnahmen nachträglich zu treffen.

6.3
Opfer sexueller Gewaltdelikte sind daher unverzüglich auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme ärztlicher - auch psychotraumatischer - Beratung hinzuweisen, damit im Einzelfall erforderliche medizinische Sofortmaßnahmen rechtzeitig getroffen werden können. Hierzu wirken die Polizeibehörden im Regelfall darauf hin, dass der mit der körperlichen Untersuchung befasste Arzt diese Beratung durchführt.

6.4
Die möglichst frühzeitige Beteiligung der Opferschutzbeauftragten ist sicherzustellen.

7
Besonderheiten bei Kindern als Opfer

7.1
Kinder, die Opfer eines Sexualdeliktes wurden, sind in besonderem Maße schutz- und hilfebedürftig. Sie sind durch das strafrechtliche Ermittlungsverfahren erheblichen zusätzlichen Belastungen ausgesetzt. Es besteht bei diesen Opfern die Gefahr, dass ohne notwendige Sensibilität vorgenommene Ermittlungen die durch das Tatgeschehen verursachten psychischen Verletzungen verstärken und das Aussageverhalten beeinträchtigen. Dies gilt vor allem im Falle sexueller Missbrauchshandlungen im sozialen Nahbereich. In diesem Fall können sich zusätzliche Belastungen durch eine ggf. ungewisse Familienzukunft, mögliche Einflussnahmen von Tatverdächtigen oder anderer Personen sowie die Gefahr einer Tatwiederholung ergeben.

7.2
Soweit erkennbar erforderlich, ist ein geeigneter Schutz von Kindern durch die frühzeitige Einbeziehung weiterer Stellen, z. B. Jugendamt oder Jugendhilfeorganisationen, zu gewährleisten.

7.3
Ist bei Minderjährigen eine körperliche Untersuchung erforderlich, so ist diese in den nach § 81 c Abs. 3 Satz 3 StPO bestimmten Fällen ausschließlich - mithin auch bei Gefahr im Verzuge - auf besondere Anordnung des Richters zulässig.

7.4
Ermittlungsverfahren mit kindlichen Opfern sind beschleunigt zu führen, da ihr Erinnerungsvermögen rasch verblasst und sie leicht beeinflussbar sind.

7.5
Die nach Maßgabe des § 58a StPO auf Bild-Ton-Träger aufzuzeichnende Vernehmung von Kindern sollte in einer möglichst kindgerechten Atmosphäre stattfinden. Die Polizeibehörden regen in geeigneten Fällen gegenüber der Staatsanwaltschaft eine entsprechende richterliche Vernehmung an. Bei Opfern, deren Missbrauchserfahrung mit dem Einsatz von Videotechnik verknüpft ist, kann sich eine Bildaufzeichnung jedoch als zusätzliche Belastung darstellen, die vermieden werden sollte.

8
Aus- und Fortbildung

8.1
Die Problematik von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und die Auswirkung polizeilichen Verhaltens auf die Opfer werden in die Curricula der Studienordnung für das Studium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen, Fachbereich Polizeivollzugsdienst, aufgenommen und sind auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse verstärkt in den Fächern Kriminalistik, Kriminologie, Straf- und Strafprozessrecht, Psychologie und Verhaltenstraining zu behandeln.

8.2
Die Leiterinnen und Leiter sowie die mit der Bearbeitung dieser Delikte betrauten Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter der zuständigen Kriminalkommissariate und außerhalb dieser Kommissariate werden unter Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Besonderheiten in speziellen Fortbildungslehrgängen mit dem aktuellen Erkenntnisstand zu diesem Problembereich vertraut gemacht.

8.3
Die Polizeibehörden stellen darüber hinaus die zielgruppenspezifische Vermittlung der Inhalte dieser Regelung sowie der in diesem Zusammenhang landeseinheitlich zu verwendenden Vordrucke sicher.

9
Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaften, Opferhilfeorganisationen sowie Ärztinnen und Ärzten

9.1
Die Staatsanwaltschaft ist in herausragenden Fällen frühzeitig zu unterrichten.

9.2
Opferhilfeorganisationen leisten sachkundige Hilfe bei der Bewältigung der erlebten Krisensituation und der unvermeidlichen Belastung durch das Ermittlungsverfahren. Die zuständigen Kriminalkommissariate, das Kommissariat Vorbeugung und die Opferschutzbeauftragten halten mit diesen Institutionen regelmäßigen Kontakt.

9.3
Die Polizeibehörden konzentrieren die Aufträge für ärztliche Untersuchungen möglichst auf wenige medizinische Einrichtungen mit entsprechendem Fachpersonal. Das Untersuchungspersonal dieser Einrichtungen ist durch enge Kontakte über die kriminalistischen Beweisanforderungen zu informieren.

9.4
Die Vordruckkommission der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen stellt die Anforderungen an eine sachgerechte und opferorientierte Spurensuche und -sicherung aus Anlass einer körperlichen Untersuchung auf der Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes in dem Vordruck „Ärztliche Untersuchung des Opfers einer Sexualstraftat“ zusammen. In den Vordruck sind neben den unmittelbar erforderlichen Feststellungen auch die im Einzelfall erforderlichen Folgeuntersuchungen zum Nachweis schwerer Gesundheitsschädigungen einzubeziehen. Die Zentralen Polizeitechnischen Dienste des Landes Nordrhein-Westfalen stellen den Vordruck den Polizeibehörden als landeseinheitlich zu verwendenden Vordruck bereit.

10
Öffentlichkeitsarbeit

10.1
Polizeiliche Presse- und Öffentlichkeitsarbeit hat sich vorrangig an den Bedürfnissen der Opfer zu orientieren, kann aber auch zur weiteren Enttabuisierung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beitragen. Sie ist insbesondere auf den Abbau von Vorurteilen und falschen Vorstellungen vom „typischen" Sexualdelikt, gegen Schuldzuweisungen an die Opfer und verharmlosende Tendenzen in der Berichterstattung zu richten. Sachverhalte sind wertungsfrei und vorwiegend fahndungsorientiert darzustellen. Der Schutz der Persönlichkeit des Opfers hat Vorrang vor anderen Gesichtspunkten.

10.2
Sachkundige Beamtinnen und Beamte der Kriminalkommissariate sollten in ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich verstärkt in entsprechenden Arbeitskreisen mitwirken und sich an öffentlichen Diskussionen zu der Problematik beteiligen. Diese Beamtinnen und Beamten sollten insbesondere im Zusammenhang mit den geschlechtsspezifischen Besonderheiten bei Kindern als Opfer mit einschlägigen Präventionsmaterialien und Kontaktstellen vertraut sein.

Der Erlass ergeht im Einvernehmen mit dem Justizministerium, dem Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie und dem Ministerium für Schule, Jugend und Kinder.

Der Runderlass vom 10.7.1989 (SMBl. NRW. 20531) wird aufgehoben.

MBl. NRW. 2004 S. 229


Anlagen: