Geltende Erlasse (SMBl. NRW.) mit Stand vom 27.9.2024
Bearbeitung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung RdErl. d. Innenministeriums v. 3.2.2004 - 42 – 6503
Bearbeitung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung RdErl. d. Innenministeriums v. 3.2.2004 - 42 – 6503
Bearbeitung von Straftaten gegen die
sexuelle Selbstbestimmung
RdErl.
d. Innenministeriums v. 3.2.2004
- 42 – 6503
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Allgemeines
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Minderjähriger und Erwachsener -
gleich welchen Geschlechts - sind in den vergangenen Jahren zunehmend
enttabuisiert worden und damit weiter in das Bewusstsein der Öffentlichkeit
gerückt. Aufgrund der Schwere dieser Delikte und ihrer Folgen für die Opfer
bedarf die Behandlung durch die Strafverfolgungsorgane besonderer Behutsamkeit.
Ziel dieses Erlasses ist es, eine vorurteilsfreie, sachorientierte
Ermittlungsarbeit zu fördern, die auf die psychische Belastung der Opfer
besondere Rücksicht nimmt.
Mit dieser Zielsetzung sind bei der Bearbeitung von Straftaten gegen die
sexuelle Selbstbestimmung folgende Grundsätze zu beachten:
Verhalten bei der Anzeigenerstattung
Tataufklärung sowie Einstellung des Opfers zur Tat und ihren Folgen werden
wesentlich von den Erstkontakten mit der Polizei bestimmt. In dieser Situation
sind Einfühlungsvermögen und Zurückhaltung geboten.
Erforderliche Fahndungsmaßnahmen sind mit Nachdruck einzuleiten. Das Opfer soll
erkennen können, dass der Einsatz der Polizei der Schwere des Delikts
angemessen ist, und zwar auch dann, wenn sich der Wahrheitsgehalt der Aussagen
noch nicht beurteilen lässt.
Die Befragung durch erstbefasste nicht spezialisierte Kräfte im Zuge der
Anzeigenaufnahme hat sich auf den groben Sachverhalt, den Ort und den Zeitpunkt
der Tat sowie auf Hinweise zu Tätern, Zeugen und möglichen Tatspuren zu
beschränken.
Fragen zu den persönlichen Verhältnissen des Opfers, zur Vorgeschichte der Tat
und zu Einzelheiten des Tathergangs sind zu diesem Zeitpunkt unnötig. Die
Äußerung von Zweifeln am Wahrheitsgehalt der Angaben oder Vorwürfe gegen das
Opfer haben zu unterbleiben. Das Opfer soll auf die Möglichkeit hingewiesen
werden, eine am Verfahren nicht beteiligte Person seines Vertrauens zu
benachrichtigen oder hinzuzuziehen. Das „Merkblatt über die Rechte von
Verletzten und Geschädigten im Strafverfahren“ ist auszuhändigen.
Soweit erforderlich, ist zur Beweissicherung und zur Opfernachsorge eine
ärztliche Untersuchung zu veranlassen. Eine schnelle Weiterbearbeitung durch
das zuständige Kriminalkommissariat ist sicherzustellen.
Neben der Beweissicherung während der ärztlichen Untersuchung des Opfers sind
weitere Maßnahmen der Spurensuche und -sicherung bzw. des Spurenschutzes
unverzüglich zu veranlassen.
Beamtinnen und Beamte, die Kontakte mit Opfern von Straftaten gegen die
sexuelle Selbstbestimmung erwarten, können dem beiliegenden Merkblatt (Anlage)
Empfehlungen für ein sachgerechtes Verhalten entnehmen.
Sachbearbeitung
Die Bearbeitung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist
grundsätzlich speziell fortgebildeten Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern
zu übertragen. Mit dieser Aufgabe sind nur Beamtinnen und Beamte zu betrauen,
die sich durch vorurteilsfreie Haltung, Einfühlungsvermögen, Toleranz und Kommunikationsfähigkeit
auszeichnen.
Bei den Polizeibehörden ist ein Verzeichnis über die speziell fortgebildeten
Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter vorzuhalten, auf das jederzeit
zurückgegriffen werden kann.
Vernehmung des Opfers
Bei der Vernehmung ist auf die seelische Ausnahmesituation des Opfers Rücksicht
zu nehmen. Daher ist eine Vernehmungssituation zu schaffen, die frei von
äußeren Störungen, Misstrauen und Vorwürfen ist. Durch verständnisvolle
Haltung, Geduld, Ruhe und Pausen soll eine Atmosphäre des Vertrauens erreicht
werden, die dem Opfer die Schilderung der Tat erleichtert. Eine rücksichtsvolle
Behandlung erhöht die Aussagebereitschaft und trägt zur Wahrheitsfindung bei.
Dem Opfer ist zu verdeutlichen, dass die Zeugenbelehrung kein Ausdruck des
Misstrauens ist.
Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sollen darüber
informiert werden, warum polizeiliche Maßnahmen erforderlich und auch den
Intimbereich berührende Fragen notwendig sind.
Auf Wunsch des Opfers ist der Anwesenheit einer Person seines Vertrauens bei
der Vernehmung grundsätzlich stattzugeben, wenn der Untersuchungszweck nicht
gefährdet wird. Steht aber das Opfer zu dieser Person in einem
Abhängigkeitsverhältnis, so ist in deren Abwesenheit zu klären, ob sie bei der
Vernehmung anwesend sein soll.
Vernehmungen des Opfers sind durchgehend von derselben Beamtin bzw. demselben
Beamten durchzuführen. Ein Wechsel während der Vernehmung hat grundsätzlich zu
unterbleiben.
Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind ausdrücklich auf
die Möglichkeit hinzuweisen, sich - ggf. später - durch eine
gleichgeschlechtliche Vernehmungsperson vernehmen zu lassen. Wünsche des Opfers
hinsichtlich des Geschlechts der Vernehmungsperson sind möglichst zu berücksichtigen.
Die Polizeibehörden stellen sicher, dass im Rahmen der personellen
Möglichkeiten geschulte Beamtinnen zur Verfügung stehen. Dabei sind auch
Beamtinnen außerhalb der zuständigen Kriminalkommissariate zu berücksichtigen.
Da mehrmalige Vernehmungen des Opfers zu einer erheblichen Belastung führen
können, sind Folgevernehmungen durch eine sinnvolle Gestaltung des zeitlichen
Ablaufs der Ermittlungen möglichst zu vermeiden. Wird eine Folgevernehmung
erforderlich, sind dem Opfer die Gründe hierfür darzulegen.
Weitere Maßnahmen
Grundsätzlich ist von einer direkten Gegenüberstellung des Opfers mit
Tatverdächtigen abzusehen. Wahlgegenüberstellungen sind so durchzuführen, dass
das Opfer von den Teilnehmern nicht gesehen wird. Auch unbeabsichtigte
Begegnungen des Opfers mit Tatverdächtigen sind möglichst zu verhindern.
Einsichtnahmen in Lichtbilder zum Zwecke der Identifizierung von
Tatverdächtigen sind mit Rücksicht auf die individuelle Belastbarkeit des
Opfers zeitlich zu begrenzen, um eine Überforderung zu vermeiden.
Mittels körperlicher Untersuchungen - welche im Regelfall auf Grund
erforderlicher medizinischer Kenntnisse eine ärztliche Untersuchung erfordern -
kann einerseits serologisches Spurenmaterial sichergestellt werden, das die
Identifizierung eines Tatverdächtigen gestattet. Andererseits sind körperliche
Untersuchungen geeignet, das Opfer besonders schwer zu belasten; sie bedürfen
daher Behutsamkeit, Einfühlungsvermögen, Betreuung und Information. Ist eine
intensive Spurensuche am Opfer erforderlich, so ist der Zweck der Untersuchung
zu erläutern. Beeinträchtigungen der Intimsphäre aus Anlass der Untersuchung
sind möglichst zu vermeiden.
Für die Beweisführung bei körperlichen Verletzungen ist im Regelfall eine genaue
ärztliche Beschreibung ausreichend. Über die ärztliche Untersuchung
hinausgehende Maßnahmen der Spurensuche und -sicherung sind zur Vermeidung
einer Mehrfachbelastung des Opfers mit dieser zu verbinden. Werden dabei
erforderlichenfalls Fotoaufnahmen des ganz oder teilweise unbekleideten Opfers
gefertigt, sind diese in einem verschlossenen Umschlag oder gesondert geheftet
zu den Akten zu nehmen.
Maßnahmen der Spurensuche und -sicherung haben auch die Bekleidung des Opfers
und von Tatverdächtigen einzubeziehen. Bei der Sicherstellung von
Beweismitteln, die jeweils einzeln zu verpacken sind, ist insbesondere das
Berühren mit bloßen Händen zu vermeiden.
Opferschutz
Neben Maßnahmen zur Spurensuche und -sicherung sowie der im Einzelfall
erforderlichen ärztlichen Versorgung körperlicher Verletzungen kommen besondere
Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge in Betracht, wenn durch die Tat die Gefahr
einer schweren Gesundheitsschädigung oder einer erheblichen Schädigung der
körperlichen oder seelischen Entwicklung besteht.
Darüber hinaus besteht nach ungeschütztem oder unzureichend geschütztem
Sexualkontakt die Möglichkeit, Empfängnis verhütende Maßnahmen nachträglich zu
treffen.
Opfer sexueller Gewaltdelikte sind daher unverzüglich auf die Möglichkeit der
Inanspruchnahme ärztlicher - auch psychotraumatischer - Beratung hinzuweisen,
damit im Einzelfall erforderliche medizinische Sofortmaßnahmen rechtzeitig
getroffen werden können. Hierzu wirken die Polizeibehörden im Regelfall darauf
hin, dass der mit der körperlichen Untersuchung befasste Arzt diese Beratung
durchführt.
Die möglichst frühzeitige Beteiligung der Opferschutzbeauftragten ist
sicherzustellen.
Besonderheiten bei Kindern als Opfer
Kinder, die Opfer eines Sexualdeliktes wurden, sind in besonderem Maße schutz-
und hilfebedürftig. Sie sind durch das strafrechtliche Ermittlungsverfahren
erheblichen zusätzlichen Belastungen ausgesetzt. Es besteht bei diesen Opfern
die Gefahr, dass ohne notwendige Sensibilität vorgenommene Ermittlungen die
durch das Tatgeschehen verursachten psychischen Verletzungen verstärken und das
Aussageverhalten beeinträchtigen. Dies gilt vor allem im Falle sexueller
Missbrauchshandlungen im sozialen Nahbereich. In diesem Fall können sich
zusätzliche Belastungen durch eine ggf. ungewisse Familienzukunft, mögliche
Einflussnahmen von Tatverdächtigen oder anderer Personen sowie die Gefahr einer
Tatwiederholung ergeben.
Soweit erkennbar erforderlich, ist ein geeigneter Schutz von Kindern durch die
frühzeitige Einbeziehung weiterer Stellen, z. B. Jugendamt oder
Jugendhilfeorganisationen, zu gewährleisten.
Ist bei Minderjährigen eine körperliche Untersuchung erforderlich, so ist diese
in den nach § 81 c Abs. 3 Satz 3 StPO bestimmten Fällen ausschließlich - mithin
auch bei Gefahr im Verzuge - auf besondere Anordnung des Richters zulässig.
Ermittlungsverfahren mit kindlichen Opfern sind beschleunigt zu führen, da ihr
Erinnerungsvermögen rasch verblasst und sie leicht beeinflussbar sind.
Die nach Maßgabe des § 58a StPO auf Bild-Ton-Träger aufzuzeichnende Vernehmung
von Kindern sollte in einer möglichst kindgerechten Atmosphäre stattfinden. Die
Polizeibehörden regen in geeigneten Fällen gegenüber der Staatsanwaltschaft
eine entsprechende richterliche Vernehmung an. Bei Opfern, deren
Missbrauchserfahrung mit dem Einsatz von Videotechnik verknüpft ist, kann sich
eine Bildaufzeichnung jedoch als zusätzliche Belastung darstellen, die
vermieden werden sollte.
Aus- und Fortbildung
Die Problematik von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und die
Auswirkung polizeilichen Verhaltens auf die Opfer werden in die Curricula der
Studienordnung für das Studium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung
des Landes Nordrhein-Westfalen, Fachbereich Polizeivollzugsdienst, aufgenommen
und sind auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse verstärkt
in den Fächern Kriminalistik, Kriminologie, Straf- und Strafprozessrecht,
Psychologie und Verhaltenstraining zu behandeln.
Die Leiterinnen und Leiter sowie die mit der Bearbeitung dieser Delikte
betrauten Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter der zuständigen
Kriminalkommissariate und außerhalb dieser Kommissariate werden unter
Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Besonderheiten in speziellen
Fortbildungslehrgängen mit dem aktuellen Erkenntnisstand zu diesem
Problembereich vertraut gemacht.
Die Polizeibehörden stellen darüber hinaus die zielgruppenspezifische
Vermittlung der Inhalte dieser Regelung sowie der in diesem Zusammenhang
landeseinheitlich zu verwendenden Vordrucke sicher.
Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaften, Opferhilfeorganisationen sowie
Ärztinnen und Ärzten
Die Staatsanwaltschaft ist in herausragenden Fällen frühzeitig zu unterrichten.
Opferhilfeorganisationen leisten sachkundige Hilfe bei der Bewältigung der
erlebten Krisensituation und der unvermeidlichen Belastung durch das
Ermittlungsverfahren. Die zuständigen Kriminalkommissariate, das Kommissariat
Vorbeugung und die Opferschutzbeauftragten halten mit diesen Institutionen
regelmäßigen Kontakt.
Die Polizeibehörden konzentrieren die Aufträge für ärztliche Untersuchungen
möglichst auf wenige medizinische Einrichtungen mit entsprechendem
Fachpersonal. Das Untersuchungspersonal dieser Einrichtungen ist durch enge
Kontakte über die kriminalistischen Beweisanforderungen zu informieren.
Die Vordruckkommission der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen stellt die
Anforderungen an eine sachgerechte und opferorientierte Spurensuche und
-sicherung aus Anlass einer körperlichen Untersuchung auf der Grundlage des
aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes in dem Vordruck „Ärztliche
Untersuchung des Opfers einer Sexualstraftat“ zusammen. In den Vordruck sind
neben den unmittelbar erforderlichen Feststellungen auch die im Einzelfall
erforderlichen Folgeuntersuchungen zum Nachweis schwerer
Gesundheitsschädigungen einzubeziehen. Die Zentralen Polizeitechnischen Dienste
des Landes Nordrhein-Westfalen stellen den Vordruck den Polizeibehörden als
landeseinheitlich zu verwendenden Vordruck bereit.
Öffentlichkeitsarbeit
Polizeiliche Presse- und Öffentlichkeitsarbeit hat sich vorrangig an den
Bedürfnissen der Opfer zu orientieren, kann aber auch zur weiteren
Enttabuisierung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beitragen.
Sie ist insbesondere auf den Abbau von Vorurteilen und falschen Vorstellungen
vom „typischen" Sexualdelikt, gegen Schuldzuweisungen an die Opfer und
verharmlosende Tendenzen in der Berichterstattung zu richten. Sachverhalte sind
wertungsfrei und vorwiegend fahndungsorientiert darzustellen. Der Schutz der
Persönlichkeit des Opfers hat Vorrang vor anderen Gesichtspunkten.
Sachkundige Beamtinnen und Beamte der Kriminalkommissariate sollten in ihrem
örtlichen Zuständigkeitsbereich verstärkt in entsprechenden Arbeitskreisen
mitwirken und sich an öffentlichen Diskussionen zu der Problematik beteiligen.
Diese Beamtinnen und Beamten sollten insbesondere im Zusammenhang mit den
geschlechtsspezifischen Besonderheiten bei Kindern als Opfer mit einschlägigen
Präventionsmaterialien und Kontaktstellen vertraut sein.
Der
Erlass ergeht im Einvernehmen mit dem Justizministerium, dem Ministerium für
Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie und dem Ministerium für Schule, Jugend
und Kinder.
Anlagen: