Geltende Erlasse (SMBl. NRW.)  mit Stand vom 17.4.2024


Richtlinien zur Förderung der Diversion im Jugendstrafverfahren (Diversionsrichtlinien)

 

Richtlinien zur Förderung der Diversion im Jugendstrafverfahren (Diversionsrichtlinien)

Richtlinien zur Förderung der Diversion im Jugendstrafverfahren
(Diversionsrichtlinien)

Gemeinsamer Runderlass
des Ministeriums der Justiz,
des Ministeriums des Innern,
des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration
und des Ministeriums für Schule und Bildung

Vom 25. September 2023

1
Vorbemerkungen

1.1
Diversion

Jugendkriminalität ist oft ein entwicklungsbedingtes, episodenhaftes Phänomen. Sie erfordert deshalb eine differenzierte Betrachtung und eine staatliche Reaktion mit Augenmaß. Straffälligen Jugendlichen sind zwar Grenzen aufzuzeigen, hierzu reichen jedoch häufig bereits die Entdeckung der Tat, die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oder erzieherische Maßnahmen des sozialen Umfelds aus. Eine zusätzliche förmliche Sanktionierung durch ein jugendgerichtliches Urteil hat bei Kriminalität, die Ausdruck einer konfliktbeladenen Reifewerdung junger Menschen und als solche auf einen zumeist kurzen Lebensabschnitt beschränkt ist, regelmäßig keinen erzieherischen Mehrwert. Sie birgt vielmehr die Gefahr einer frühzeitigen Stigmatisierung Jugendlicher als „Straftäter“ mit nachteiligen Folgen für ihre weitere Persönlichkeitsentwicklung. Die Diversionsvorschriften der §§ 45, 47 des Jugendgerichtsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. Dezember 1974 (BGBl. I S. 3427), das zuletzt durch Artikel 21 des Gesetzes vom 25. Juni 2021 (BGBl. I S. 2099) geändert worden ist, im Folgenden JGG, greifen dies auf. Sie ermöglichen eine schnelle, flexible und erzieherisch angemessene Antwort auf strafrechtlich relevante Verfehlungen Jugendlicher und vermeiden eine belastende gerichtliche Hauptverhandlung und einen gerichtlichen Urteilsspruch.

Das Diversionsverfahren kann seine volle erzieherische Wirkung nur entfalten, wenn die beteiligten staatlichen Stellen eng und über den Einzelfall hinaus unter Berücksichtigung besonderer örtlicher Umstände zusammenarbeiten. Lokale Besonderheiten dürfen allerdings wegen des Grundsatzes der Rechtsgleichheit nicht dazu führen, dass eine regional sehr unterschiedliche Diversionspraxis entsteht.

1.2
Ziel und Adressaten der Richtlinien

Die Leitlinien dieser Gemeinsamen Rundverfügung sollen eine landesweit gleichmäßige Handhabung der Diversion und zugleich ein effektives, aufeinander abgestimmtes Vorgehen von Staatsanwaltschaft, Polizei und Jugendgerichtshilfe fördern.

Sie wenden sich an Staatsanwaltschaft, Polizei, Jugendgerichtshilfe und, soweit betroffen, an die Schulen. Sie geben eine Anleitung für den Regelfall vor, von der wegen der Besonderheiten des Einzelfalles abgewichen werden kann. Für die Gerichte stellen sie lediglich Empfehlungen dar.

1.3
Heranwachsende

Diese Richtlinien gelten für Heranwachsende im Sinne von § 1 Absatz 2 JGG entsprechend, wenn Jugendstrafrecht zur Anwendung kommt. Aus Gründen der Verständlichkeit wird lediglich der Begriff „Jugendliche“ verwandt, soweit nicht vereinzelt eine gesonderte Nennung Heranwachsender erforderlich ist.

1.4
Verhältnis zu sonstigen Erlassen

Es bleiben unberührt

a) die bundeseinheitlichen Richtlinien zum Jugendgerichtsgesetz, in der Fassung der Allgemeinverfügung des Ministeriums der Justiz vom 8. Juni 1994 (4214 - III A. l) - JMBl. NW S. 157 -,

b) der Runderlass „Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendstrafverfahren“ vom 14.3.1995 (MBl. NRW. S. 558),

c) der Runderlass „Vorläufige Richtlinien zur Anwendung des § 31 a Abs. l des Betäubungsmittelgesetzes vom 13. Mai 1994 (MBl. NRW. S. 618) und

d) der Runderlass „Zusammenarbeit bei der Verhütung und Bekämpfung der Jugendkriminalität“ vom 19. November 2019 (MBl. NRW. S. 740).

2
Allgemeines

2.1
Anwendungsbereich der Diversionsvorschriften

2.1.1
Bei Vergehen Jugendlicher im Sinne von § 12 Absatz 2 des Strafgesetzbuches in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 23. Juli 2023 (BGBl. I Nr. 203) geändert worden ist, im Folgenden StGB, leichter oder mittelschwerer Art ist stets und in jeder Lage des Verfahrens ein Absehen von der Strafverfolgung oder die Einstellung des Verfahrens nach den §§ 45 oder 47 JGG zu prüfen. Bei gleicher erzieherischer Eignung ist das Diversionsverfahren einer förmlichen Entscheidung im Jugendstrafverfahren durch Urteil vorzuziehen. Bei der Prüfung sind in besonderem Maße die persönliche Entwicklung, die Lebensumstände, das Alter der oder des Jugendlichen, die Folgen der Tat, vorhandene oder eine zu erwartende Unrechtseinsicht und zudem zu berücksichtigen, ob die Tat Ausdruck jugendtypischen Fehlverhaltens ist. Ein gewichtiges Anzeichen für jugendtypisches Verhalten ist ein leichtsinniges, unbekümmertes, ziel- und planloses Handeln aus der Situation heraus, oft getragen von Geltungsbedürfnis oder Erlebnishunger.

2.1.2
Verbrechen im Sinne von § 12 Absatz 1 StGB und gewichtigere, nach allgemeinem Strafrecht mit einer erhöhten Mindeststrafe bewehrte Vergehen Jugendlicher erlauben eine Diversion regelmäßig nur, wenn die Tat nebst ihrer Folgen im Einzelfall weniger schwer wiegt und Ausdruck jugendtypischen Fehlverhaltens ist.

2.2
Unschuldsvermutung und Verdachtsgrad

Die Diversion darf nicht zu einer Einschränkung der Unschuldsvermutung führen. Eine Verfahrenseinstellung nach den §§ 45, 47 JGG kommt daher nur bei hinreichendem Tatverdacht einer strafbaren Handlung und bei Jugendlichen - mit Ausnahme von § 47 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 JGG - zudem bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 Satz 1 des Jugendgerichtsgesetzes in Betracht. Liegen die Voraussetzungen eines Freispruchs vor, stimmt die Staatsanwaltschaft einer Einstellung nach § 47 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 bis 3 JGG nicht zu.

2.3
Verhältnismäßigkeit

Ein Vorgehen nach den §§ 45 und 47 JGG darf insgesamt nicht belastender wirken als ein förmliches Jugendgerichtsverfahren und jugendgerichtliche Sanktionen durch Urteil.

2.4
Beschleunigungsgrundsatz

2.4.1
Verfahren, in denen eine Diversion in Betracht kommt, sind beschleunigt zu führen. Es ist dadurch insbesondere sicherzustellen, dass erzieherische Maßnahmen in einem engen zeitlichen Zusammenhang zu der Tat erfolgen.

2.4.2
Wird der oder dem Jugendlichen ein Verbrechen vorgeworfen und kommt eine Diversion nach §§ 45 Absatz 2 oder Absatz 3 JGG absehbar in Betracht, ist zur Verfahrensbeschleunigung sorgfältig zu prüfen, ob nach § 68a Absatz 1 Satz 2 JGG ausnahmsweise von der Bestellung einer Pflichtverteidigung abgesehen werden kann.

2.5
Wiederholungsfälle

2.5.1
Eine Diversion ist auch bei der wiederholten Begehung von Straftaten möglich.

2.5.2
Ist ein wegen früherer Straffälligkeit einer oder eines Jugendlichen geführtes Verfahren gemäß einer der Varianten der §§ 45 oder 47 JGG eingestellt worden, kommt bei einer neuerlichen strafrechtlichen Verfehlung ein Absehen von der Strafverfolgung auf der gleichen Sanktionsstufe von §§ 45 oder 47 JGG nur ausnahmsweise in Betracht. Eine solche Ausnahme liegt regelmäßig vor, wenn im Einzelfall dringende erzieherische Gründe gegen die Anwendung der nächsthören, eingriffsintensiveren Diversionsregelung der §§ 45 oder 47 JGG sprechen und die oder der Jugendliche

a) in einem erheblichen zeitlichen Abstand zu der früheren Tat oder

b) wegen eines Delikts, das im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut oder die Art der Tatbegehung mit der vorangegangenen Straftat nicht vergleichbar ist, erneut strafrechtlich auffällig geworden ist.

2.5.3
Jugendliche, die in einem anderen Verfahren freigesprochen worden sind, sind als erstmalig strafrechtlich auffällig im Sinne dieser Rundverfügung anzusehen. Gleiches gilt, wenn gegen eine Jugendliche oder einen Jugendlichen in einem anderen Verfahren die Eröffnung des Hauptverfahrens, die Aufnahme von Ermittlungen abgelehnt oder die Ermittlungen nach § 170 Absatz 2 Satz 1 der Strafprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), die zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 26. Juli 2023 (BGBl. 2023 I Nr. 203) geändert worden ist, im Folgenden StPO, eingestellt worden sind.

2.6
Diversion und Absehen von der Strafverfolgung nach anderen Vorschriften

2.6.1
Verhältnis zu § 170 Absatz 2 Satz 1 StPO

Entsprechend Nummer 2.2 Satz 2 schließt eine mögliche Einstellung nach § 170 Absatz 2 Satz 1 StPO ein Absehen von der Strafverfolgung nach § 45 JGG aus.

2.6.2
Diversion und Privatklagedelikte

Verneint die Staatsanwaltschaft bei Privatklagedelikten im Sinne von § 374 Absatz 1 StPO das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung gemäß § 376 StPO oder die Voraussetzungen von § 80 Absatz 1 Satz 2 JGG, stellt sie das Verfahren nach § 170 Absatz 1 Satz 1 StPO ein. Die Verweisung auf den Privatklageweg ist gemäß 80 Absatz 1 Satz 1 JGG ausgeschlossen. Gleiches gilt in diesen Fällen für das Absehen von der Strafverfolgung nach § 45 JGG.

2.6.3
Verhältnis zu den §§ 153 und 153a StPO

Die auf die besonderen Belange junger Straftäterinnen und Straftäter zugeschnittenen Diversionsvorschriften der §§ 45, 47 JGG und ihre registerrechtlichen Folgeregelungen schließen die direkte Anwendung von §§ 153, 153a StPO aus.

2.6.4
Verhältnis zu den §§ 153b bis 154f der StPO

Die Vorschriften der §§ 153b bis 154f der StPO sind neben den §§ 45 und 47 JGG anwendbar. Einer Verfahrenseinstellung und Verfolgungsbeschränkung nach den §§ 154 und 154a StPO ist aus Gründen der Prozessökonomie Vorrang einzuräumen, soweit dies unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens sachgerecht erscheint.

2.6.5
Verhältnis zu § 31a und § 37 des Betäubungsmittelgesetzes

2.6.5.1
Die Diversionsvorschriften sind im Verhältnis zu § 31a des Betäubungsmittelgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. März 1994 (BGBl. I S. 358), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 26. Juli 2023 (BGBl. 2023 I Nr. 204) geändert worden ist, regelmäßig vorrangig anzuwenden. Im Einzelfall kann hiervon abgesehen werden, wenn dies dem Erziehungsgedanken und einer frühzeitigen Drogenprävention nicht zuwiderläuft.

2.6.5.2
Liegen die Voraussetzungen von § 37 des Betäubungsmittelgesetzes in Verbindung mit § 38 Absatz 2 des Betäubungsmittelgesetzes vor, schließt dies eine Einstellung des Verfahrens nach Diversionsvorschriften nicht aus. Hat das Gericht seine Zustimmung gemäß § 37 Absatz 1 Satz 1 des Betäubungsmittelgesetzes in Verbindung mit § 38 Absatz 2 des Betäubungsmittelgesetzes verweigert, ist ein Rückgriff auf § 45 Absatz 1 oder 2 JGG nicht zulässig.

2.7
Diversion und selbständige Einziehung

Die selbständige Einziehung inkriminierter Vermögenswerte gemäß § 76a Absatz 3 StGB und die Einleitung eines selbständigen Einziehungsverfahrens nach § 435 StPO sind durch die Staatsanwaltschaft nach einer Einstellung des Verfahrens gemäß §§ 45, 47 JGG stets zu prüfen. Die Gemeinsame Verfügung der Generalstaatsanwältin und Generalstaatsanwälte des Landes zur Einziehung von Taterträgen und des Wertes von Taterträgen aus Straftaten - Anwendungshinweise und vorläufige Leitlinien (Wertgrenzen) zur Ermessensausübung bei der Anwendung von §§ 421 Absatz 3, 435 Absatz 1 Satz 2 StPO und der Vorschriften über vorläufige Sicherungsmaßnahmen (§§ 111b, 111e StPO) - vom 23. Januar 2019 (4000 - 82 (GStA Düsseldorf, 4000a GStA 1. 90 (GStA Hamm, 4000 – 1. 36 (GStA Köln)) n.v. bleibt unberührt.

2.8
Diversion und Anspruch des Verletzten auf effektive Strafverfolgung

2.8.1
Es ist vor jeder Einstellung eines Verfahrens nach den Diversionsvorschriften, insbesondere nach § 45 Absatz 1 JGG, in den Blick zu nehmen, ob von Verfassungs wegen ein subjektiver Anspruch des Verletzten im Sinne von§ 373b der StPO auf eine effektive Strafverfolgung besteht, der auch unter besonderer Berücksichtigung des Erziehungsgedankens einer Einstellung des Verfahrens im Einzelfall entgegenstehen könnte. Dies ist besonders eingehend zu prüfen, wenn naheliegt, dass der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit der Person abzuwehren, oder der Vorwurf im Raum steht, dass Amtsträger bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen haben. Gleiches gilt, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich Verletzte möglicher Straftaten in einem besonderen Gewaltverhältnis zum Staat befanden oder diesem eine besondere Fürsorge- oder Obhutspflicht gegenüber dem Verletzten oblag.

2.8.2
Soll in den Fällen der Nummer 2.8.1 Satz 2 von der weiteren Verfolgung nach § 45 JGG abgesehen werden, ist dies nur zulässig, wenn zuvor der Sachverhalt unter Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Mittel und nach Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes erschöpfend ermittelt ist und die Beweismittel gesichert sind. Der Ermittlungsverlauf ist detailliert und vollständig zu dokumentieren und die Einstellungsentscheidung nachvollziehbar zu begründen. Bei Personenschäden sind für die Feststellung ihres Ausmaßes Ermittlungen auch zu den mittelbaren Tatfolgen im Einzelfall vorzunehmen.

3
Anwendungsgrundsätze

Unter Beachtung der allgemeinen Hinweise nach Nummer 1 und 2 dieser Rundverfügung wendet die Staatsanwaltschaft die Diversionsvorschriften im Einzelnen nach den Maßgaben der Nummern 3.1 bis 3.4.2 an.

3.1
Subsidiarität

Liegt der hinreichende Tatverdacht einer Straftat vor, prüft die Staatsanwaltschaft vor Erhebung der öffentlichen Klage oder vor einem Antrag auf Durchführung des vereinfachten Jugendverfahrens gemäß § 76 JGG zunächst eine Einstellung nach § 45 JGG in folgender Stufenfolge:

a) Diversion nach § 45 Absatz 1 JGG,

b) Diversion gemäß § 45 Absatz 2 JGG unter Berücksichtigung bereits anderweitig erfolgter oder eingeleiteter erzieherischer Maßnahmen,

c) Diversion nach § 45 Absatz 2 JGG nach einer auf Anregung der Staatsanwaltschaft eingeleiteten oder durchgeführten erzieherischen Maßnahme oder

d) Diversion gemäß § 45 Absatz 3 JGG.

3.2
Absehen von der Verfolgung nach § 45 Absatz 1 JGG

3.2.1
Ein Absehen von der Verfolgung nach § 45 Absatz 1 JGG kommt im Regelfall nur in Betracht, wenn

a) der oder die Jugendliche erstmalig strafrechtlich auffällig geworden ist und

b) die Tat Ausdruck jugendtypischen Fehlverhaltens ist und sie über ihre Entdeckung und die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens hinaus keine anderweitige erzieherische Maßnahme erfordert.

Eine anderweitige erzieherische Maßnahme ist insbesondere nicht erforderlich, wenn die oder der Jugendliche Unrechtseinsicht zeigt oder ihr oder sein Verhalten glaubhaft bedauert oder die Tat lange zurückliegt und die oder der Jugendliche in der Zwischenzeit keine Straftaten begangen hat. Liegen Anzeichen für eine Gefährdung der Entwicklung der oder des Jugendlichen, wie etwa Alkohol- und Drogenmissbrauch, erhöhtes Aggressionspotential oder Besitz von Waffen, vor, soll von einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 45 Absatz 1 JGG regelmäßig abgesehen werden.

3.2.2
Bei Prüfung der geringen Schuld und des fehlenden öffentlichen Interesses im Sinne von § 45 Absatz 1 JGG in Verbindung mit § 153 Absatz 1 StPO ist Nummer III, 3.1 bis 3.7 der Rundverfügung des Ministeriums der Justiz zur Einstellung von Ermittlungsverfahren gegen Erwachsene nach § 153 Absatz 1, § 153a Absatz 1, § 376 StPO und Zustimmung der Staatsanwaltschaft nach § 153 Absatz 2, § 153a Absatz 2 StPO vom 23. Juli 2021 (4100 - III.133) n.v. - Anlage - unter Vorrang erzieherischer Erwägungen des Einzelfalls zu beachten.

3.2.3
Bei Jugendlichen, die erstmalig strafrechtlich in Erscheinung getreten sind, allerdings zwei oder weniger Jahre vor Erreichen der Strafmündigkeit als Kind mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorsätzlich und rechtswidrig den objektiven Tatbestand eines Vergehens im Sinne von § 12 Absatz 2 StGB mehrfach oder einmalig ein Verbrechen im Sinne von § 12 Absatz 1 StGB verwirklicht haben, ist eine Verfahrensbeendigung gemäß § 45 Absatz 1 JGG unter erzieherischen Gesichtspunkten besonders sorgfältig zu prüfen.

3.2.4
Ist eine erzieherische Maßnahme bereits eingeleitet oder durchgeführt worden, die nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft nicht notwendig ist oder war, ist von der Verfolgung nach § 45 Absatz 1 JGG abzusehen.

3.3
Absehen von der Verfolgung nach § 45 Absatz 2 JGG

3.3.1
Allgemeines

Bei der Anwendung von § 45 Absatz 2 JGG ist zu beachten, dass

a) erzieherische Maßnahmen, insbesondere dann, wenn sie unmittelbar nach der Tat im sozialen Umfeld der oder des Jugendlichen ergriffen worden sind, geeignet sein müssen, die Unrechtseinsicht und Verantwortungsbereitschaft der oder des Jugendlichen zu fördern und sie oder ihn künftig zu normgemäßen Verhalten zu veranlassen und

b) das Erfordernis der Einschaltung des Jugendgerichts wegen einer besonderen Erziehungsbedürftigkeit der oder des Jugendlichen oder der Schwere der Tat und ihrer Folgen, gerade gemäß § 45 Absatz 3 JGG, nicht unterlaufen werden darf.

3.3.2
Anderweitige erzieherische Maßnahmen

Als anderweitige erzieherische Maßnahmen kommen vorrangig angemessene Reaktionen in Betracht, die von Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertretern getroffen worden oder sicher zu erwarten sind. Weiter zählen hierzu neben dem in § 45 Absatz 2 Satz 2 JGG genannten Täter-Opfer-Ausgleich alle Initiativen, die zur pädagogischen Einwirkung auf die Jugendliche oder den Jugendlichen von öffentlicher Seite oder im Ausbildungsverhältnis ergriffen werden. Insbesondere Maßnahmen

a) der Schule, wie etwa Schulverweis, vorübergehender Ausschluss vom Unterricht, Ausschluss von Klassenreisen oder Thematisierung des Vorfalls im Unterricht,

b) der Ausbilderin oder des Ausbilders,

c) von Strafjustiz und Polizei, wie etwa Vollzug von Untersuchungshaft, vorläufige Festnahme, das Aufsuchen des oder der Jugendlichen bei den Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertretern, die verantwortliche Vernehmung nebst einem normverdeutlichenden Gespräch, oder

d) der Jugend- oder bei Heranwachsenden der Hilfe für junge Volljährige.

3.3.3
Erzieherische Maßnahmen auf Initiative der Staatsanwaltschaft

3.3.3.1
Kommt ein Absehen von der Verfolgung nach § 45 Absatz 2 JGG in Betracht, ist aber noch keine anderweitige erzieherische Reaktion erfolgt, prüft die Staatsanwaltschaft, ob sie die Voraussetzung für die Einstellung des Verfahrens selbst herbeiführt oder gegenüber den Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertretern, der Jugendgerichtshilfe oder der Schule die Durchführung bestimmter erzieherischer Maßnahmen vorschlägt.

3.3.3.2
Dabei beachtet sie, dass

a) die Teilnahme der oder des Jugendlichen an erzieherischen Maßnahmen freiwillig ist und

b) die Anregung oder Durchführung einer Maßnahme unterbleiben, wenn der oder die Jugendliche, die Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertreter oder die Verteidigung widersprechen und

c) die angebotenen Erziehungsmaßnahmen nicht über die in § 45 Absatz 3 JGG genannten Maßnahmen hinausgehen dürfen.

3.3.3.3
Als erzieherische Maßnahme kann die Staatsanwaltschaft, gegebenenfalls unter Einbeziehung anderer Stellen, ein erzieherisches Gespräch mit der oder dem Jugendlichen führen. Die Staatsanwaltschaft beachtet zudem die gesetzlichen Unterrichtungs- und Anwesenheitsrechte der Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertretern, insbesondere aus § 67a JGG, oder der Verteidigung. Ein erzieherisches Gespräch ist im Übrigen nur statthaft, wenn

a) bei dem oder der Jugendlichen Unrechtseinsicht - auch hinsichtlich der Folgen der Tat - und Verantwortungsbereitschaft vorhanden sind oder diese zumindest mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im Verlaufe des Gesprächs geweckt und

b) erzieherische Maßnahmen absehbar vereinbart werden können.

3.3.3.4
Schlägt die Staatsanwaltschaft die Durchführung und Überwachung erzieherischer Maßnahmen durch die Jugendgerichtshilfe oder die Schule vor, entscheiden diese hierüber in eigener fachlicher Kompetenz. Fachliche Bedenken gegen die vorgeschlagenen Maßnahmen teilen sie der Staatsanwaltschaft unverzüglich mit. Halten die Jugendgerichtshilfe oder die Schule stattdessen andere Maßnahmen für angezeigt, regen sie diese zugleich gegenüber der Staatsanwaltschaft an.

3.3.4
„Gelbe Karte“-Termine

3.3.4.1
Bei einem „Gelbe Karte“-Termin handelt es sich um eine erzieherische Maßnahme im Sinne von § 45 Absatz 2 JGG. Die hierzu in Nummer 3.3.1 bis 3.3.3 niedergelegten Leitlinien sind zu beachten. Darüber hinaus kommen „Gelbe Karte“-Termine nur bei gewichtigeren Fällen von Jugendkriminalität in Betracht, die sich im Grenzbereich zwischen Diversion und Anklage bewegen oder ein Gefährdungspotential bei der oder dem Jugendlichen erkennen lassen. Sie sind ausgeschlossen, wenn nach Aktenlage ohne weiteres von der Verfolgung gemäß § 45 Absatz 1 JGG abzusehen oder die Beteiligung des Jugendgerichts, vorrangig nach § 45 Absatz 3 JGG, erforderlich ist.

3.3.4.2
Die Staatsanwaltschaft legt zügig - gegebenenfalls auf Anregung der Polizei - unter Beteiligung der Jugendgerichtshilfe nach Einleitung der Ermittlungen die Verfahren fest, die sich unter den Voraussetzungen von Nummer 3.3.4.1 für einen „Gelbe Karte“-Termin eignen. Die oder der Jugendliche ist sodann zeitnah durch die Polizei verantwortlich zu vernehmen und von der Jugendgerichtshilfe anzuhören. Die dabei anwesende Staatsanwaltschaft entscheidet kurzfristig im Anschluss, ob erzieherische Maßnahmen anzubieten und welcher Art diese sind.

3.4
Absehen von der Verfolgung nach § 45 Absatz 3 JGG

3.4.1
Ist mit Blick auf die Schwere der Tat und das in ihr zum Ausdruck kommende Erziehungsdefizit der oder des Jugendlichen die Einschaltung des Jugendgerichts geboten, prüft die Staatsanwaltschaft im Rahmen der Stufenfolge von Nummer 3.1 dieser Rundverfügung vorrangig ein Vorgehen nach § 45 Absatz 3 JGG. Sie beachtet dabei, dass eine Diversion nach § 45 Absatz 3 JGG im Vergleich zur Erhebung der öffentlichen Klage oder zur Durchführung des vereinfachten Jugendverfahrens im Regelfall besser geeignet ist, den oder die Jugendliche im gerichtlichen Anhörungstermin unmittelbar erzieherisch zu erreichen, ohne ihn oder sie zugleich mit einem zumeist zeitlich länger andauernden förmlichen Jugendstrafverfahren zu belasten.

3.4.2
Entspricht das Jugendgericht dem staatsanwaltschaftlichen Antrag auf Durchführung einer Diversion nach § 45 Absatz 3 JGG nicht, prüft die Staatsanwaltschaft vor einer Anklageerhebung zunächst eine Antragstellung im vereinfachten Jugendverfahren.

3.5
Einstellung des Verfahrens gemäß § 47 JGG

Die Erhebung der öffentlichen Klage hindert die Staatsanwaltschaft nicht daran, im weiteren Verlauf des Verfahrens eine Einstellung des Verfahrens nach § 47 JGG anzuregen oder einer solchen Einstellung zuzustimmen. Die in dieser Rundverfügung für die Anwendung von § 45 JGG niedergelegten Hinweise gelten dabei sinngemäß.

4
Beteiligte, ressortübergreifende Zusammenarbeit und Verfahren

4.1
Entscheidungskompetenz

Über eine Verfahrensbeendigung durch Diversion entscheiden Staatsanwaltschaft und nach Erhebung der öffentlichen Klage das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Polizei und Jugendgerichtshilfe können Empfehlungen aussprechen. Die Staatsanwaltschaft bezieht in ihre Entscheidung Anregungen der Polizei und der Jugendgerichtshilfe ein. Sie berücksichtigt dabei die besondere Fachlichkeit und Sachnähe dieser Beteiligten.

4.2
Vertrauensvolle und verfahrensübergreifende Zusammenarbeit

4.2.1
Staatsanwaltschaft, Polizei, Jugendgerichtshilfe und, soweit betroffen, die Schulen arbeiten im Rahmen ihrer Aufgaben und Befugnisse vertrauensvoll unter besonderer Berücksichtigung der Leitlinien des unter Nummer 1.4 Buchstabe d genannten Erlasses zusammen. Gemeinsames Ziel ist eine zeitnahe und erzieherisch wie rechtlich angemessene Reaktion auf strafrechtliche Verfehlungen Jugendlicher sowie die Verhinderung von weiteren Straftaten, die der Entwicklung der oder des Jugendlichen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entgegenstehen könnten.

4.2.2
Zur Förderung der Zusammenarbeit sind in regelmäßigen Abständen, mindestens einmal jährlich, fallübergreifende Besprechungen zwischen der örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft, der Polizei und der Jugendgerichtshilfe bei den örtlichen Jugendämtern durchzuführen. Die Staatsanwaltschaft lädt in Absprache mit der Polizei zu diesen Dienstbesprechungen ein. Den Jugendrichterinnen und Jugendrichtern der örtlichen Jugendgerichte und den Angehörigen des ambulanten Sozialen Dienstes der Justiz soll die Teilnahme an den Dienstbesprechungen ermöglich werden. In den Besprechungen legen die Beteiligten unter anderem besondere örtliche Verfahrensweisen, Kommunikationswege und Ansprechpersonen fest.

Ziele der Besprechungen sind

a) die Förderung des Verständnisses der jeweiligen Rolle und Befugnisse,

b) die Optimierung der Arbeitsabläufe,

c) die Vertiefung der Kenntnisse über aktuelle Entwicklungen im Bereich des Jugendstrafrechts und des Jugendhilferechts,

d) der Austausch über Hintergründe und Erscheinungsformen örtlicher Jugendkriminalität und

e) die Fortentwicklung der Diversionspraktiken unter Berücksichtigung spezieller örtlicher Gegebenheiten.

4.3
Beteiligtenspezifische Verfahrensregelungen

4.3.1
Staatsanwaltschaft

4.3.1.1
Begründungspflicht bei Absehen von einer Diversion

Will die Staatsanwaltschaft einen Antrag nach § 76 JGG stellen oder die öffentliche Klage erheben, ist in den Akten in einem der Bedeutung der Sache angemessenen Umfang zu vermerken, weshalb nicht zumindest gemäß § 45 Absatz 3 JGG von der Verfolgung abgesehen worden ist.

4.3.1.2
Zeitpunkt der Einstellungsentscheidung bei längerfristigen Maßnahmen

Hält die Staatsanwaltschaft in den Fällen des § 45 Absatz 2 JGG die Durchführung einer (weiteren) erzieherischen Maßnahme im Sinne des § 45 Absatz 2 JGG für erforderlich, sieht sie bei längerfristig angelegten erzieherischen Maßnahmen bereits bei deren Beginn von der Verfolgung ab. Stellt sich später heraus, dass die Maßnahme abgebrochen wurde oder sonst nicht abgeschlossen werden wird und ist bis zu diesem Zeitpunkt kein nennenswerter erzieherischer Erfolg eingetreten, nimmt sie das Verfahren wieder auf.

4.3.1.3
Einstellungsnachricht

4.3.1.3.1
Die Benachrichtigung der oder des Jugendlichen über das Absehen von der Strafverfolgung nach § 45 JGG ergeht in der Regel formlos (Nummer 91 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren in der Fassung der Allgemeinverfügung des Ministeriums der Justiz vom 22. Dezember 2022 (4208 - III. 7) - JMBl. NRW 2023 Nr. 1 S. 124). Sie verdeutlicht in erzieherisch geeigneter Weise der oder dem Jugendlichen ihr oder sein Fehlverhalten und ihre oder seine Verantwortlichkeit. Sie enthält in den Fällen des § 45 Absatz 1 JGG den Hinweis, dass bei erneuter Straffälligkeit eine folgenlose Einstellung regelmäßig nicht mehr in Betracht kommt. In den Fällen des § 45 Absatz 2 JGG wird die oder der Jugendliche darauf aufmerksam gemacht, dass sie oder er bei künftigen Verstößen mit einer jugendgerichtlichen Sanktion rechnen muss.

4.3.1.3.2
Die oder der Jugendliche ist zudem darauf hinzuweisen, dass die Einstellung nach § 45 JGG in das Erziehungsregister beim Bundeszentralregister eingetragen wird, damit sie im Fall einer weiteren Straftat in einem folgenden Verfahren berücksichtigt werden kann.

4.3.1.3.3
Bei Jugendlichen beachtet die Staatsanwaltschaft die in § 67a JGG und Nummer 34 der Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Juli 2022 (BAnz AT 20.07.2022 B1), im Folgenden MiStra, nebst Ausnahmefällen geregelte Pflicht, die Erziehungsberechtigten, gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertretern der oder des Jugendlichen oder Verfahrenspflegschaften über die Einstellung des Verfahrens zu unterrichten. Hat die Staatsanwaltschaft der oder dem Jugendlichen in Anwesenheit der Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertreter die Entscheidung in einem Erziehungsgespräch eröffnet, kann sie von einer Bekanntgabe ihrer Entscheidung absehen.

4.3.1.4
Mitteilungen

Die Staatsanwaltschaft beachtet die sich aus dem Gesetz und der MiStra ergebenden Mitteilungspflichten, insbesondere Nummer 31 bis 34 MiStra (Betreuungs- und Familiengericht, Jugendgerichtshilfe, Schule und andere Prozessbeteiligte).

Bei Mitteilungen zum Schutze von Kindern und Jugendlichen nach Nummer 35 MiStra darf die Mitteilung an die zuständige öffentliche Stelle nicht bis zum Abschluss des Diversionsverfahrens verzögert werden. Sie hat unverzüglich nach Bekanntwerden der Gefährdungstatsachen zu erfolgen.

4.3.1.5
Einbindung der Jugendgerichtshilfe durch die Staatsanwaltschaft

4.3.1.5.1
Im Sinne einer vertrauensvollen Zusammenarbeit übt die Staatsanwaltschaft - auch bei Straftaten Heranwachsender - gegenüber der zuständigen Jugendgerichtshilfe ihr Ermessen gemäß § 38 Absatz 7 JGG frühzeitig aus. Ein Verzicht ist von der Staatsanwaltschaft regelmäßig zu erklären, wenn sie ein Absehen von der Verfolgung nach § 45 Absatz 1 JGG beabsichtigt und sich alle für die Entscheidung erheblichen Umstände offensichtlich aus den Akten ergeben oder der Staatsanwaltschaft auf andere Weise bekannt sind.

4.3.1.5.2
Ist die Jugendgerichtshilfe über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens noch nicht durch die Polizei unterrichtet worden, räumt die Staatsanwaltschaft vor dem Absehen von der Verfolgung nach § 45 Absatz 2 JGG der Jugendgerichtshilfe eine fristgebundene Gelegenheit zur Stellungnahme ein. Gibt die Jugendgerichtshilfe innerhalb der gesetzten Frist eine Stellungnahme nicht ab, ist davon auszugehen, dass ein Absehen von der Verfolgung ohne weitere Maßnahmen für unbedenklich gehalten wird.

4.3.1.5.3
Nach Durchführung einer erzieherischen Maßnahme nach § 45 Absatz 2 JGG berücksichtigt die Staatsanwaltschaft vor der förmlichen Einstellung des Verfahrens von der Jugendgerichtshilfe gegebenenfalls zwischenzeitlich mitgeteilte Bedenken.

4.3.1.5.4
Die Staatsanwaltschaft hört die Jugendgerichtshilfe an, wenn sie die Zustimmung zu einer richterlichen Einstellung nach § 47 JGG in der Hauptverhandlung zu verweigern beabsichtigt und die Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe noch nicht vorliegt.

4.3.2
Polizei

4.3.2.1
Beschränkte Befugnisse der Polizei

Die Polizei ist nicht befugt, der oder dem Jugendlichen Zusagen im Hinblick auf eine Einstellung des Verfahrens nach Diversionsgrundsätzen zu machen oder von sich aus erzieherische Maßnahmen unmittelbar aufzugeben. Nummer 4.3.2.7.3 ist zu beachten.

4.3.2.2
Frühzeitige Prüfung der Voraussetzung der Diversion

Die Polizei prüft nach Maßgabe von Nummer 2 und 3 möglichst frühzeitig, ob die Voraussetzungen für eine Diversion vorliegen. In Zweifelsfällen nimmt sie umgehend Kontakt mit der zuständigen Staatsanwaltschaft auf.

4.3.2.3
Unterrichtung der Jugendgerichtshilfe

Die Polizei informiert die Jugendgerichtshilfe frühzeitig, jedoch spätestens zum Zeitpunkt der Ladung der oder des Jugendlichen zur ersten Vernehmung nach § 70 Absatz 2 Satz 1 JGG über die Einleitung des Ermittlungsverfahrens. Die Mitteilung enthält den Personalbogen und den voraussichtlichen Vernehmungstermin. Ist die erste verantwortliche Vernehmung ohne vorherige Ladung erfolgt, muss die Unterrichtung unverzüglich nach der Vernehmung erfolgen. Ob und welche darüberhinausgehenden Informationen der Jugendgerichtshilfe erteilt werden, entscheidet die Staatsanwaltschaft im Einzelfall.

4.3.2.4
Vorlage an die Staatsanwaltschaft und Schlussbericht

4.3.2.4.1
Nach Abschluss ihrer Ermittlungen legt die Polizei der Staatsanwaltschaft die Akten zur Entscheidung vor. Den Akten sind der Eindrucksvermerk nach Beschuldigtenvernehmung des Jugendlichen und gegebenenfalls ein Schlussbericht beizufügen. Auf Anordnung der Staatsanwaltschaft übermittelt die Polizei der Jugendgerichtshilfe neben dem Personalbogen, die Verschriftung oder Aufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung, gegebenenfalls den Eindrucksvermerk über das Erziehungsgespräch, sofern dieses stattgefunden hat, und den Jugendamtsbericht.

4.3.2.4.2
Der Schlussbericht, der in Fällen von geringer Bedeutung knapp gehalten werden kann, enthält, soweit möglich, Angaben zu

a) Umständen, die für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der oder des Jugendlichen gemäß § 3 JGG oder bei Heranwachsenden für die Anwendung von Jugendstrafrecht nach § 105 Absatz 1 und § 109 Absatz 2 JGG von Bedeutung sind,

b) den Folgen und Auswirkungen des Ermittlungsverfahrens auf die Jugendliche oder den Jugendlichen und ihr oder sein soziales Umfeld, insbesondere auch zu Folgen nachteiliger Art, wie etwa den Verlust eines Ausbildungsplatzes,

c) der Reaktion der oder des Jugendlichen auf die Einleitung des Ermittlungsverfahrens, insbesondere zu Anhaltspunkten, aus denen auf eine Unrechtseinsicht und Übernahme von Verantwortung geschlossen werden kann, wie etwa eine Entschuldigung gegenüber dem Opfer oder die freiwillige Zahlung von Schadensersatz oder Schmerzensgeld,

d) der Reaktion der Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertreter auf die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und die von ihnen gegebenenfalls bereits ergriffenen erzieherischen Maßnahmen und

e) erledigten oder noch andauernden anderweitigen erzieherischen Maßnahmen aus Anlass der Straftat.

Weiter verhält er sich dazu, ob der oder die Jugendliche

a) zur Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs bereit ist und

b) mit seinen oder ihren Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertretern oder Vertreterinnen

aa) auf die Rückgabe von Tatwerkzeugen oder sonstigen Gegenständen, die durch eine rechtswidrige Tat oder für sie erlangt worden sind, verzichtet und

bb) die Einwilligung in die Löschung unrechtmäßig erworbener oder hergestellter Ton- und Bildaufzeichnungen oder elektronischer Datenverarbeitungsprogramme erklärt hat.

4.3.2.5
Verfahren bei Anhaltspunkten für ein Absehen von der Verfolgung nach § 45 Absatz 1 JGG

Erscheint der Polizei eine Diversion ohne Durchführung einer erzieherischen Maßnahme möglich, ist die oder der Jugendliche lediglich verantwortlich zu vernehmen und im Regelfall von weiteren Ermittlungen im sozialen Umfeld des oder der Jugendlichen abzusehen. Die weitergehenden Ermittlungsvorgaben im Fall eines Anspruchs des Verletzten auf effektive Strafverfolgung nach Nummer 2.8.2 bleiben unberührt. Die Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreterinnen und Vertreter sind nach den allgemeinen Regeln auf die Möglichkeit ihrer Anwesenheit bei der Vernehmung hinzuweisen und auf Verlangen hinzuzuziehen. Ist kein Erziehungsberechtigter oder keine gesetzliche Vertreterin oder kein gesetzlicher Vertreter anwesend, weil ihnen die Anwesenheit versagt wird oder weil binnen angemessener Frist niemand erreicht werden konnte, ist einer anderen für den Schutz der Interessen des oder der Jugendlichen geeigneten volljährigen Person die Anwesenheit zu gestatten, soweit dies dem Wohl des oder der Jugendlichen dient und das Verfahren nicht beeinträchtigt.

4.3.2.6
Verfahren bei Anhaltspunkten für ein Absehen von der Verfolgung nach § 45 Absatz 2 JGG ohne weitere Maßnahmen

4.3.2.6.1
Allgemeines

Erscheint der Polizei eine Diversion nach Durchführung einer erzieherischen Maßnahme möglich, sind die Ermittlungen auch auf das soziale Umfeld auszudehnen. Sind nach Einschätzung der Polizei genügende erzieherische Maßnahmen eingeleitet beziehungsweise durchgeführt, schließt sie Ermittlungen ab und leitet der Staatsanwaltschaft die Akten und der Jugendgerichtshilfe die unter Nummer 4.3.2.4.1 Satz 3 genannten Unterlagen zu.

4.3.2.6.2
Normverdeutlichendes Erziehungsgespräch

Ist die oder der Jugendliche in der verantwortlichen Vernehmung gegenüber der Polizei geständig oder bestreitet er die Tat nicht ernsthaft oder substantiiert, kann die Polizei im umgehend herzustellenden Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft ein erzieherisches Gespräch führen, das der Normverdeutlichung dient und bei der oder dem Jugendlichen die erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens unterstützen soll. Widersprechen die oder der Jugendliche, die Erziehungsberechtigten oder gesetzliche Verteidigerinnen oder gesetzlichen Verteidiger oder Vertreterinnen oder Vertreter oder die Verteidigung der Durchführung eines Erziehungsgesprächs unterbleibt dieses. In geeigneten Fällen macht die Polizei die Jugendliche oder den Jugendlichen auch auf Hilfsangebote staatlicher oder sozialer Organisationen, insbesondere von Trägern der Jugendhilfe, aufmerksam. Über das Erziehungsgespräch ist ein Bericht zu erstellen, der zur Akte zu nehmen ist.

4.3.2.7
Verfahren bei Anhaltspunkten für ein Absehen von der Verfolgung nach § 45 Absatz 2 JGG im Fall der Anregung (weiterer) erzieherischer Maßnahmen

4.3.2.7.1
Hält die Polizei die Anregung (weiterer) erzieherischer Maßnahmen, wie etwa gemeinnützige Arbeit, Arbeit zur Schadenswiedergutmachung, Geldzahlungen an gemeinnützige Einrichtungen, Durchführung eines förmlichen Täter-Opfer-Ausgleichs oder Teilnahme am Verkehrsunterricht, vor einer Einstellung nach § 45 Absatz 2 JGG für erforderlich, schlägt sie diese - gegebenenfalls unter unmittelbarer Kontaktaufnahme - der Staatsanwaltschaft vor.

4.3.2.7.2
Hat die Staatsanwaltschaft in die angeregte Vorgehensweise eingewilligt, klärt die Polizei anschließend mit der oder dem Jugendlichen und den Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertretern die Bereitschaft zur Durchführung der erzieherischen Maßnahme ab. Das Ergebnis dieses Gesprächs hält die Polizei in einem Aktenvermerk fest.

4.3.2.7.3
Ist die oder der Jugendliche in der verantwortlichen Vernehmung geständig oder bestreitet sie oder er nicht ernstlich oder substantiiert den Tatvorwurf, kann die Polizei auf die Möglichkeit der Entschuldigung beim Opfer oder einer sofortigen Schadenswiedergutmachung hinweisen. Dabei hat sie die Jugendliche oder den Jugendlichen darüber zu belehren, dass es sich allein um eine Anregung und nicht um eine Anordnung handelt und die Durchführung weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht zu einem Absehen von der Verfolgung zwingt.

4.3.2.7.4
Hält die Polizei ein Verfahren für die Durchführung eines „Gelbe Karte“-Termins für geeignet, richtet sie zeitnah einen entsprechenden Vorschlag an die Staatsanwaltschaft.

4.3.3
Jugendgerichtshilfe

4.3.3.1
Eigenständigkeit der Jugendgerichtshilfe

Die Jugendgerichtshilfe kann in jedem Verfahrensstadium bei der Staatsanwaltschaft unter Darstellung der Persönlichkeit der oder des Jugendlichen die Einstellung des Verfahrens nach Diversionsgrundsätzen und, soweit aus ihrer Sicht erforderlich, erzieherische Maßnahmen anregen.

4.3.3.2
Unterrichtungsanspruch der Jugendgerichtshilfe und des Jugendamtes

4.3.3.2.1
Die unter Nummer 4.3.1.5 und 4.3.3.3 ausgeführte Pflicht von Staatsanwaltschaft und Polizei zur Unterrichtung der Jugendgerichtshilfe stellt sicher, dass die Jugendgerichtshilfe von ihren Rechten umfassend Gebrauch machen und ihre besondere Fachlichkeit möglichst früh in das Verfahren einbringen kann.

4.3.3.2.2
Zudem unterrichtet die Polizei, solange die Vorgänge noch nicht der Staatsanwaltschaft übermittelt worden sind, das Jugendamt unverzüglich von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens, wenn erkennbar wird, dass Leistungen der Jugendhilfe in Frage kommen.

4.3.3.3
Prüfung des Hilfebedarfs und Unterrichtungspflicht des Jugendamtes

Nachdem das Jugendamt über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen eine Jugendliche oder einen Jugendlichen oder eine Heranwachsende oder einen Heranwachsenden unterrichtet worden ist, prüft es frühzeitig, ob im Sinne von § 52 Absatz 2 des Sozialgesetzbuches - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe – in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2824; 2023 I Nr. 19) geändert worden ist, im Folgenden SGB VIII, der Jugendhilfe oder anderer Sozialleistungsträger in Betracht kommen. Ist eine geeignete Leistung bereits eingeleitet oder gewährt, unterrichtet das Jugendamt die Staatsanwaltschaft, nach Anklageerhebung das Jugendgericht, damit geprüft werden kann, ob die Leistungen ein Absehen von der Verfolgung nach § 45 JGG oder die Einstellung des Verfahrens nach § 47 JGG rechtfertigen.

4.3.3.4
Unterrichtungspflicht der Jugendgerichtshilfe

4.3.3.4.1
Ist die Jugendgerichtshilfe durch die Polizei über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens unterrichtet worden, informiert sie die Staatsanwaltschaft beziehungsweise das Gericht über ihr bekanntgewordene erfolgte oder eingeleitete erzieherische Maßnahmen, insbesondere über Reaktionen der Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertreter und der Schule. Dabei macht sie deutlich, ob die Maßnahmen aus ihrer Sicht ein Absehen von der Verfolgung nach § 45 JGG oder eine Einstellung des Verfahrens nach § 47 JGG ermöglichen (§ 52 Absatz 2 Satz SGB VIII).

4.3.3.4.2
Die Jugendgerichtshilfe benachrichtigt gemäß § 70 Absatz 1 Satz 2 JGG die Staatsanwaltschaft, wenn ihr bekannt wird, dass gegen die Jugendliche oder den Jugendlichen noch weitere Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig sind

4.3.3.4.3
Nummer 4.3.3.4.1 und 4.3.3.4.2 sind auch anzuwenden, wenn die Staatsanwaltschaft auf einen Bericht nach § 38 Absatz 3 JGG gemäß § 38 Absatz 7 JGG verzichtet hat, solange der Jugendgerichtshilfe eine abschließende Entscheidung noch nicht vorliegt. Liegt kein Verzicht vor, äußert sich die Jugendgerichtshilfe zudem zur Persönlichkeit, Entwicklung und den familiären, sozialen und wirtschaftlichen Hintergründen der oder des Jugendlichen, zu einer möglichen besonderen Schutzbedürftigkeit und zu weiteren Maßnahmen, die aus erzieherischen Gründen geboten erscheinen.

4.3.3.5
Begleitung des oder der Jugendlichen

Wurden unter Beteiligung der Jugendgerichtshilfe, insbesondere aus Anlass eines „Gelbe-Karte“-Termins, Initialmaßnahmen eingeleitet, soll die oder der Jugendliche vom Jugendamt beobachtet und betreut werden, um die Wirkung der Maßnahmen zu verstärken. Zugleich soll der oder dem Jugendlichen sowie ihren oder seinen Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertretern verdeutlicht werden, dass sie oder er unter besonderer Beobachtung steht und wegen der Vernetzung von Staatsanwaltschaft, Polizei und Jugendhilfe mit raschen Reaktionen auf weiteres Fehlverhalten rechnen muss.

4.3.4
Unterrichtungspflichten der Schule

4.3.4.1
Soweit die Schule von der Staatsanwaltschaft oder der Polizei über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens unterrichtet wurde, berichtet sie im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen der Staatsanwaltschaft über die von ihr getroffenen Maßnahmen, ein erzieherisches Gespräch und eventuelle Wiedergutmachungsleistungen der oder des Jugendlichen. Sie kann der Staatsanwaltschaft auch weitere erzieherische Maßnahmen vorschlagen.

4.3.4.2
Die Schule unterrichtet gemäß § 70 Absatz 1 Satz 2 JGG die Staatsanwaltschaft, wenn ihr bekannt wird, dass gegen die Jugendliche oder den Jugendlichen noch weitere Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig sind.

5
Inkrafttreten

Dieser Runderlass tritt am Tag nach der Veröffentlichung in Kraft. Gleichzeitig treten die Diversionsrichtlinien vom 13. Juli 2004 (MBl. NRW. S. 840) außer Kraft.

MBl. NRW. 2023 S. 1288.