Ministerialblatt (MBl. NRW.)
Ausgabe 2001 Nr. 20 vom 2.4.2001 Seite 471 bis 486

Beurteilung kommunaler Bürgschaften im Hinblick auf das europäische Beihilferecht
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zugehörige Anlagen :
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Beurteilung kommunaler Bürgschaften im Hinblick auf das europäische Beihilferecht

651

Beurteilung kommunaler Bürgschaften
im Hinblick auf das europäische Beihilferecht

Gem. RdErl. d. Ministeriums
für Wirtschaft und Mittelstand, Energie und Verkehr
u. d. Innenministeriums v. 5.3.2001

1
Allgemeines

Gemäß Artikel 87 des EG-Vertrages sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.

Unter Beihilfen versteht das europäische Wettbewerbsrecht alle von staatlichen Stellen gewährte Vorteile, die in verschiedener Form die Belastungen vermindern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat. Nach Auffassung der Europäischen Kommission, der die ausschließliche Befugnis zur Überwachung von Beihilfen in alleiniger Verantwortung obliegt, können auch Bürgschaften der öffentlichen Hand diese Voraussetzungen erfüllen. Die Europäische Kommission nimmt bei ihrer Entscheidung über die Freistellung nach Artikel 87 Abs. 3 des EG-Vertrages verschiedentlich einen weiten Ermessensspielraum in Anspruch und neigt gelegentlich auch dazu, den Tatbestand einer Beihilfe recht weit zu fassen. Diese Praxis erschwert eine zuverlässige Prognose über die Vereinbarkeit von Bürgschaften mit dem europäischen Beihilferecht.

Allerdings sind die Überlegungen der Kommission trotz erster Versuche einer inhaltlichen Festlegung in einer Mitteilung an die Mitgliedstaaten noch nicht abgeschlossen. Dies betrifft vor allem die Frage, welchen Beihilfewert eine Bürgschaft besitzt und ob bzw. in welchem Ausmaß andere Instrumente staatlicher Garantien dem Beihilfenrecht unterfallen.

Wegen dieser noch offenen Entwicklung können die nachfolgenden Hinweise nur vorläufigen und im Wesentlichen beschreibenden Charakter haben.

2
Die Kommissionsmitteilung über die Anwendung des europäischen Beihilferechts auf staatliche Beihilfen in Form von Haftungsverpflichtungen und Bürgschaften

In einer Mitteilung vom Frühjahr 2000 stellt die Kommission ihre Haltung zu Bürgschaften und anderen Garantien der öffentlichen Hand dar. Ähnlich der Bindung nationaler Behörden an Verwaltungsvorschriften lässt sich die Kommission bei der Beurteilung der Beihilfequalität und der Bemessung des Beihilfewerts von Programmen bzw. einzelnen Maßnahmen von den Aussagen der Mitteilung leiten.

2.1
Merkmale einer Beihilfe für den Kreditnehmer

Aus staatlichen Mitteln gewährte Bürgschaften und Garantien stellen eine der Kontrolle der Kommission unterliegende Beihilfe für den Kreditnehmer dar, soweit sie ihn überhaupt in die Lage versetzen, einen Kredit zu erhalten, ihm den Vorteil eines günstigeren Kredits verschaffen, ihm die Leistung anderer Sicherheiten ersparen oder sie ihm "kostenlos" ohne angemessene Risikoprämie bewilligt werden.

Für die Herkunft der Garantie aus staatlichen Mitteln genügt es, wenn sie von einer lokalen Körperschaft oder von einem von einer solchen Körperschaft beherrschten Unternehmen erbracht wird. Die Kommission sieht ausdrücklich Gemeinden und Gemeindeverbände sowie kommunale Unternehmen und Einrichtungen als Adressaten der Mitteilung an.

2.2
Einzelne kommunale Bürgschaften

Eine kommunale Bürgschaft stellt nur unter folgenden kumulativen Voraussetzungen keine Beihilfe dar:

- der Kreditnehmer ist nicht in wirtschaftlichen Schwierigkeiten,

- er trägt ein Eigenobligo von 20 v.H., d.h. es dürfen nur 80 v.H. der Kreditsumme verbürgt werden,

- er kann grundsätzlich auch ohne Hilfe der Kommune Kreditmittel auf dem Markt erhalten,

- er zahlt eine marktübliche Prämie für die Bürgschaft.

Für den Kreditgeber ist die Bürgschaft nur dann eine Beihilfe, wenn sie nachträglich für einen ohne Bürgschaft bereits ausgereichten Kredit oder deshalb bewilligt wird, um dem Kreditnehmer ein weiteres Darlehen zu verschaffen, um hiermit einen fälligen oder Not leidenden Kredit abzulösen.

2.3
Beihilferegelungen

Beihilferegelungen sind häufig als Verwaltungsvorschriften (Richtlinien) erlassene Regelungen, auf Grund derer Unternehmen, die in der Regelung in allgemeiner und abstrakter Weise definiert werden, Beihilfen gewährt werden können. Sie sind unbedenklich, wenn sie vorsehen, dass

- nur gesunde kreditwürdige Unternehmen die Erteilungsvoraussetzungen erfüllen,

- sie ein Eigenobligo von 20 v.H. vorsehen,

- die Garantieregelung sich ähnlich einem Versicherungssystem selbst finanziell trägt

und die Prämien Ausfallrisiken und Verwaltungskosten abdecken.

3
Folgen für Kommunalbürgschaften

Bürgschaften, die von Kommunen, Kommunalverbänden und kommunalen Unternehmen an Unternehmen bewilligt werden, können daher grundsätzlich als Beihilfe angesehen werden, wenn sie die unter den Nummern 2.1 und 2.2 genannten Merkmale nicht erfüllen. Dies trifft vor allem in jenen Fällen zu, in denen Unternehmen ohne Gegenleistung auf Grund kommunaler Bürgschaften günstige Kredite zu Kommunalkonditionen erhalten.

3.1
Auswirkungen von kommunalen Bürgschaften auf den innergemeinschaftlichen Handel

In aller Regel werden kommunal verbürgte Kredite zu Gunsten bestimmter Unternehmen auch Auswirkungen auf den Gemeinsamen Markt haben, da für dieses Beihilfe begründende Merkmal bereits ausreichend ist, dass die potenzielle Wettbewerbsposition eines anderen Unternehmens aus dem Binnenmarkt beeinträchtigt werden kann. Nach einer Kommissionsentscheidung vom Januar 2001 fehlt es an einer solchen Beeinträchtigung, wenn ein mit kommunalen Mitteln unterstütztes Vorhaben (hier: ein Freizeitbad) ausschließlich den örtlichen Markt bedient und keine grenzüberschreitende Attraktivität ausstrahlt. Daraus kann geschlossen werden, dass kommunale Bürgschaften nicht der Beihilfenkontrolle unterliegen und nicht notifiziert werden müssen, wenn das mit ihnen unterstützte Vorhaben streng kommunalbezogen ist. Bürgschaften zur Realisierung von Aufgaben der klassischen kommunalen Daseinsvorsorge dürften daher zulässig sein, soweit das mit ihrer Hilfe verwirklichte Vorhaben nicht eine deutlich grenzüberschreitende Nachfrage auslöst. Da es bei der Beurteilung einer Beihilfe nur auf die Beeinträchtigung eines potenziellen Wettbewerbers aus dem EU-Raum ankommt, ist eine Beihilfenkontrolle jedoch niemals dadurch ausgeschlossen, dass das begünstigte Unternehmen selbst nur in den kommunalen Grenzen tätig wird.

3.2
Bagatellfälle

Nach der Praxis der Europäischen Kommission sind solche kommunal bewilligten Beihilfen zu Gunsten von Unternehmen unbedenklich, deren Beihilfewert innerhalb von drei Jahren den Betrag von 100.000 Euro nicht übersteigt (so genannter de minimis-Betrag; niedergelegt in der Verordnung (EG) NR.69/2001 der Kommission vom 12. Januar 2001 über die Anwendung der Artikel 87 und 88 EG -Vertrag auf "De-minimis"-Beihilfen - ABl. EG Nr. L 10/30 vom 13.1.2001). Hierzu müssen alle innerhalb von drei Jahren bewilligten Beihilfen, die nicht auf genehmigte Beihilferegelungen (ohne Einzelfallnotifizierungspflicht) oder beihilferechtliche Einzelfallgenehmigungen gestützt werden können, zusammengerechnet werden.

3.3
Ermittlung des Beihilfewertes

3.3.1
Für den Kreditnehmer

Zur Ermittlung des Beihilfewertes eines kommunal verbürgten Kredits dürfte nach der unter Nummer 2 wieder gegebenen Mitteilung maßgeblich auf die Zinsverbilligung abzustellen sein. So wäre z.B. bei einer Zinsverbilligung von 0,5 v.H. ein Kredit bis zur Höhe von 20 Mio. Euro ohne Notifizierung zu besichern. Der geringe Beihilfewert einer Zinsverbilligung dürfte den Kommunen daher einen gewissen Spielraum zur Verbürgung von Krediten an Unternehmen belassen.

3.3.2
Für Unternehmen in Schwierigkeiten

Bürgschaften zu Gunsten eines Unternehmens in Schwierigkeiten, d.h. eines zahlungsunfähigen, drohend zahlungsunfähigen oder verschuldeten Unternehmens oder eines Unternehmens, bei dem mehr als die Hälfte der Eigenmittel und davon ein Viertel während der letzten zwölf Monate verlustbedingt aufgezehrt ist, haben nach der Praxis der Kommission jedoch in der Regel einen der Kreditsumme entsprechenden Beihilfewert, sodass die de minimis - Regel hier nur zu einer Beihilfefreiheit eines Kredits in Höhe von DM 100.000 Euro innerhalb von drei Jahren führt. Bund und Länder bemühen sich derzeit, bei der Europäischen Kommission die Festlegung eines höheren Beihilfewertes auch für solche Bürgschaften zu erreichen.

3.3.3
Für Kreditgeber

Kreditgeber sind von den oben unter Nummer 2.2 aufgeführten Ausnahmen abgesehen, durch Kommunalbürgschaften regelmäßig nicht begünstigt.

3.4
Rechtsfolgen

3.4.1
Bei Bürgschaften ohne Beihilfecharakter

Erfüllt eine Bürgschaft die unter 2.1. aufgelisteten Voraussetzungen oder fehlt es an anderen beihilfebegründenden Merkmalen (etwa in den unter 3.1 und 3.2 niedergelegten Fällen), ist eine Notifizierung nicht erforderlich. Der Bewilligung und Ausreichung der Bürgschaft stehen keine europarechtlichen Hindernisse entgegen.

Die Beurteilung der Beihilfe durch die gewährende Stelle bzw. durch das Land oder den Bund begründet jedoch keine Rechtssicherheit. Diese Rechtssicherheit kann nur durch ein Notifizierungsverfahren bei der Europäischen Kommission, gerichtet auf die Feststellung, dass es sich bei der Bürgschaft nicht um eine Beihilfe handelt, erreicht werden.

3.4.2
Bei Bürgschaften mit Beihilfecharakter

3.4.2.1
Für den Investor/Darlehensnehmer:

Wird eine notifizierungspflichtige Beihilfe nicht notifiziert und erfährt die Europäische Kommission - etwa durch Beschwerden Dritter oder aus der Presse - hiervon, leitet sie von Amts wegen ein beihilferechtliches Verfahren ein. Die Missachtung der Notifizierungsverpflichtung kann zur Folge haben, dass die Europäische Kommission die vorläufige Rückzahlung der Beihilfe bis zur Entscheidung über die Genehmigung anordnet.

Kommt die Kommission zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Bürgschaft um eine Beihilfe handelt, die keinen nach dem EG- Vertrag genehmigungsfähigen Zweck erfüllt (etwa als Regionalfördermaßnahme, Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfe, Umweltschutzbeihilfe, Beihilfe für Forschung und Entwicklung, Ausbildung oder Beschäftigung), ordnet sie die - verzinsliche - Rückabwicklung der Beihilfe an. Dies wird in der Regel dazu führen, dass der durch die Bürgschaft begründete wirtschaftliche Vorteil des Kreditnehmers abgeschöpft wird.

3.4.2.2
Für den Kreditgeber

Da Kreditgeber wie oben ausgeführt (vgl. Nummer 3.3.3), durch die Bürgschaft regelmäßig nicht begünstigt sind, besteht grundsätzlich keine europarechtliche Pflicht, neben der Rückforderung des Beihilfewertes vom Kreditnehmer auch die Nichtigkeit des Bürgschaftsvertrages anzuordnen. Da die Bürgschaft grundsätzlich fortbesteht, können die Gläubiger (Kreditinstitute) sie auch weiter in Anspruch nehmen und müssen nicht befürchten, durch eine beihilferechtliche Entscheidung der Kommission ihre Rechte aus dem Bürgschaftsvertrag zu verlieren.

Die Europäische Kommission hat allerdings diesbezüglich noch keine letzte Klarheit geschaffen. Auch hat sich die nationale (Zivil-)rechtsprechung noch nicht mit den Folgen einer den Darlehensnehmer begünstigenden rechtswidrigen Beihilfe auf den Gläubiger befasst.

4
Verfahrensanforderungen

Erfüllt eine Kommunalbürgschaft die Merkmale einer Beihilfe und übersteigt sie die de minimis - Grenze, ist sie vor Gewährung durch die Kommune der Europäischen Kommission zur Genehmigung vorzulegen. Diese Vorlage (sog. Notifizierung) ist unabhängig von der Einhaltung der Regelungen des § 86 der Gemeindeordnung über die örtlich zuständige Kommunalaufsichtsbehörde und die zuständige Bezirksregierung an das Bundesministerium der Finanzen, das die Mitteilung unter eigenem Briefkopf an die Kommission weiterleitet. vorzunehmen. Die Bezirksregierung hat zusätzlich zur Weiterleitung der Notifizierungen an das Bundesministerium der Finanzen in geeigneter Form das Ministerium für Wirtschaft und Mittelstand, Energie und Verkehr über diese Notifizierungen zu unterrichten.

Für die Notifizierung ist das Formular "Standardangaben für die Notifizierung gemäß Artikel 93 Absatz 3 des EG-Vertrages und gemäß Artikel 8 Absatz 3 des WTO-Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen (SCM-Übereinkommen)", das diesem Erlass als Anlage 1 beigefügt ist, zu verwenden. Dieses Verfahren ist auch einzuhalten, wenn zweifelhaft ist, ob eine Maßnahme die Beihilfemerkmale erfüllt.

Vor der Genehmigung der Bürgschaft durch die Europäische Kommission darf sie nicht durchgeführt werden, d. h. es sind alle Maßnahmen zu unterlassen, die einen Rechtsanspruch auf Bewilligung der Bürgschaft begründen könnten. Dagegen sind rechtlich unverbindliche und als solche gekennzeichnete Absichtserklärungen, z.B. ein "letter of intent", zulässig.

Um insbesondere Überschreitungen der de minimis - Grenze bei Mehrfachförderungen zu vermeiden, ist im Falle einer de minimis-Beihilfe der Beihilfeempfänger (i.d.R. der Kreditnehmer) in geeigneter Form darauf hinzuweisen, dass er die de minimis-Grenzen einzuhalten und den Beihilfegeber vor jeder Überschreitung zu unterrichten hat. (Ein Muster einer de minimis-Bescheinigung, wie sie der Zuwendung beigefügt werden könnte, ist als Anlage 2 beigefügt)

Ebenso wie in den unter 3.4.1. aufgeführten Fällen ist eine Notifizierung entbehrlich, wenn die Bürgschaft alle Voraussetzungen eines von der Europäischen Kommission genehmigten Programms (Beihilferegelung) erfüllt und die Kommission nicht eine Einzelfallnotifizierung vorgeschrieben hat. Solche Bürgschaften bleiben bei der Berechnung im Rahmen der de minimis Regelung unberücksichtigt.

Die Vorschriften des § 86 der Gemeindeordnung (GO) bleiben unberührt. Die gemäß § 86 Abs. 2 GO vorzugelegende Anzeige ist im bisherigen Umfang vor der Einleitung des Notifizierungsverfahrens durch die Aufsichtsbehörde zu prüfen.

5
Zuständigkeit

Unter Beachtung der jeweiligen Zuständigkeit der Fachressorts steht das für Fragen des europäischen Beihilferechts zuständige Ministerium für Wirtschaft und Mittelstand, Energie und Verkehr für Auskünfte zu Fragen, die durch diesen Erlass nicht beantwortet werden können, zur Verfügung.

Wegen der ausschließlichen Entscheidungskompetenz der Europäischen Kommission, die nur vom Europäischen Gerichtshof überprüfbar ist, kann eine Rechtsverbindlichkeit in noch nicht von der Kommission beantworteten Fragen nicht zugesichert werden.

Dieser Erlass tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft und gilt bis einschließlich 31.12.2004.

Anlage 1

Anlage 2

MBl. NRW. 2001 S. 474