Ministerialblatt (MBl. NRW.)
Ausgabe 2002 Nr. 45 vom 29.8.2002 Seite 859 bis 870
Richtlinien zur Anwendung des beschleunigten Verfahrens nach den §§ 417 ff. der Strafprozessordnung |
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Richtlinien zur Anwendung des beschleunigten Verfahrens nach den §§ 417 ff. der Strafprozessordnung
I.
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Richtlinien zur
Anwendung des beschleunigten Verfahrens
nach den §§ 417 ff. der Strafprozessordnung
Gem. RdErl. des
Justizministeriums (4600 – III A. 64), des Innenministeriums
(42.2. – 2706) und des Ministeriums für
Frauen, Jugend, Familie und
Gesundheit (IV 2 – 6302/6304.4a)
vom 15. Juli 2002
1
Allgemeines
Nach § 417 der Strafprozessordnung (StPO) stellt die Staatsanwaltschaft im Verfahren vor dem Strafrichter (ggf. Schöffengericht) schriftlich oder mündlich den Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren, wenn die Sache aufgrund des einfachen Sachverhalts oder der klaren Beweislage zur sofortigen Verhandlung geeignet ist. Das beschleunigte Verfahren dient dazu, bei bestimmten Straftaten eine spürbare Einwirkung auf Straftäter zu erzielen und eine gleichzeitig präventiv wirkende zügige Strafverfolgung – nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt des Opferschutzes – sicherzustellen. Dieses Verfahren kann darüber hinaus zur Vermeidung oder Verkürzung von Untersuchungshaft beitragen.
Die organisatorischen Voraussetzungen für eine Hauptverhandlung sofort oder in kurzer Frist sind bei den Staatsanwaltschaften und Amtsgerichten (vor allem am Sitz der Staatsanwaltschaft) sowie bei der Polizei zu schaffen. Die Behörden unterrichten sich gegenseitig über die getroffenen Maßnahmen.
Folgende Grundsätze sind zu beachten:
1.1
Voraussetzungen des beschleunigten Verfahrens
- Das beschleunigte Verfahren ist nur gegen Erwachsene und Heranwachsende zulässig, nicht gegen Jugendliche. Bei Heranwachsenden kommt es nur in Betracht, wenn die zwingend vorgeschriebene Mitwirkung der Jugendgerichtshilfe gewährleistet ist.
- Es muss ein einfacher Sachverhalt vorliegen
oder
- die Beweislage muss klar sein (Geständnis oder sichere Beweismittel).
- Im beschleunigten Verfahren darf nur Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr verhängt werden; die Entziehung der Fahrerlaubnis ist zulässig. Besonders zu beachten ist, dass bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten die Bestellung eines Verteidigers obligatorisch ist (§ 418 Abs. 4 StPO).
- Zur Verhandlung im beschleunigten Verfahren eignet sich grundsätzlich jedes Delikt.
- Die Grundsätze eines fairen Verfahrens unter Wahrung der Rechte des Beschuldigten und der Verteidigung sind auch beim beschleunigten Verfahren stets zu beachten.
1.2
Rangfolge der Verfahrensarten
- Vorab ist unverändert die Möglichkeit einer Verfahrenserledigung nach den §§ 153 ff. StPO zu prüfen.
- Das Strafbefehlsverfahren hat ebenfalls Vorrang, wenn gesichert ist, dass der Strafbefehl wirksam zugestellt oder dem Angeklagten unmittelbar ausgehändigt werden kann. Das Verfahren gemäß §§ 127a, 132 StPO wird hierdurch nicht berührt, wenn die Sicherheit in ausreichender Höhe für eine schuldangemessene Strafe gestellt wird und ein sicherer Zustellungsbevollmächtigter zur Verfügung steht.
- Die Funktion der Hauptverhandlung im Rahmen der Spezialprävention gemäß Nr. 175 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV) ist zu beachten. Danach scheidet ein Strafbefehlsantrag in der Regel aus, wenn gegen den Beschuldigten innerhalb der letzten beiden Jahre vor der Tat ein Strafbefehl erlassen worden ist.
- Das beschleunigte Verfahren hat Vorrang vor dem Anklageverfahren. Die Erhebung einer Anklage kommt regelmäßig nur in Betracht, wenn die Schwierigkeit des Sachverhalts, eine unklare Beweislage oder die Straferwartung der Antragstellung im beschleunigten Verfahren entgegenstehen.
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Beschleunigtes Verfahren ohne freiheitsentziehende Maßnahmen
2.1
Straftaten
Das beschleunigte Verfahren ohne Freiheitsentzug ist bei allen Straftaten durchzuführen, die sich aufgrund der gesetzlichen Voraussetzungen hierfür eignen.
2.2
Verfahrensweise
Die Polizei führt in einschlägigen Fällen die Ermittlungen besonders zügig durch und übersendet die Akten der Staatsanwaltschaft unter Kennzeichnung als „Eilt-Sache" mit der Anregung auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens.
Stellt die Staatsanwaltschaft einen solchen Antrag, ist hierfür regelmäßig das Gericht des Tatortes zuständig; bei Heranwachsenden ist § 42 des JGG zu beachten.
3
Das beschleunigte Verfahren mit Hauptverhandlungshaft (§ 127b StPO)
Das beschleunigte Verfahren mit Hauptverhandlungshaft kommt in den Fällen in Betracht, in denen aufgrund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, dass der Täter ohne Festnahme und Hauptverhandlungshaftbefehl der - im beschleunigten Verfahren anberaumten - Hauptverhandlung fernbleiben würde (§ 127b Abs. 1, Abs. 2 StPO). Dies gilt insbesondere bei den unter Ziffer 2 aufgeführten Beschuldigten.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auch bei Prüfung der Frage, ob Antrag auf Erlass eines Hauptverhandlungshaftbefehls gestellt werden soll, zu beachten. Allein der Umstand, dass eine Geldstrafe zu erwarten ist, macht den Erlass eines Hauptverhandlungshaftbefehls nicht unverhältnismäßig (§ 113 StPO).
3.1
Straftaten
Für das beschleunigte Verfahren mit Hauptverhandlungshaft kommen alle Straftaten von einigem Gewicht in Betracht. Besonders dürfte es sich eignen bei
- Gewaltdelikten,
- wiederholt begangenen Eigentums- und Vermögensdelikten,
- ausländer- und fremdenfeindlichen Straftaten sowie
- Verstößen gegen ausländerrechtliche Bestimmungen.
3.2
Beschuldigte
Insbesondere bei folgenden Tatverdächtigen ist regelmäßig das beschleunigte Verfahren mit Hauptverhandlungshaft zu beantragen:
- bei wohnsitzlosen oder umherreisenden Beschuldigten,
- bei Beschuldigten mit unklarem Wohnsitz,
- bei Beschuldigten mit ständig wechselndem Wohnsitz,
- bei Beschuldigten die bereits ein- oder mehrfach zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben sind und
- bei Beschuldigten ohne festen inländischen Wohnsitz.
3.3
Verfahrensweise
Liegt nach Ansicht der Polizei ein für ein beschleunigtes Verfahren mit Hauptverhandlungshaft geeigneter Fall vor, nimmt sie zunächst telefonisch Kontakt mit der Staatsanwaltschaft auf. Ggf. werden die Akten sodann direkt oder durch Telefax an die Staatsanwaltschaft übermittelt.
Die Staatsanwaltschaft stellt neben dem Antrag auf Erlass eines Hauptverhandlungshaftbefehls den Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren und reicht gleichzeitig eine Antragsschrift ein. Nach Erlass des Haftbefehls gemäß § 127b StPO wird der Beschuldigte der zuständigen Justizvollzugsanstalt zugeführt.
Um den Gerichten die Vorbereitung und Durchführung der Hauptverhandlung zu erleichtern, soll bereits die Polizei, erforderlichenfalls auch die Staatsanwaltschaft, die Erreichbarkeit von Zeugen und die Verfügbarkeit von Beweismitteln für den Hauptverhandlungstermin sicherstellen sowie bei etwaigen Dolmetscherproblemen Hilfe leisten.
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Anwendung des beschleunigten Verfahrens
bei Untersuchungshaft nach §§ 112 ff. StPO
In geeigneten Fällen kann das beschleunigte Verfahren dazu dienen, die nach den §§ 112 ff. StPO angeordnete Untersuchungshaft abzukürzen und damit überlange Haftdauer zu vermeiden.
Für die Bearbeitung solcher Fälle tritt durch diese Richtlinien keine Änderung ein. Grundsätzlich ist zum Erlass des Haftbefehls das Tatortgericht zuständig. Dieses Gericht ist auch für die sich anschließende Verhandlung und Entscheidung im beschleunigten Verfahren zuständig.
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Beschleunigtes Verfahren im Rahmen einer Vorführung nach § 128 StPO
Noch am Tage der vorläufigen Festnahme eines Beschuldigten, spätestens am Tag darauf, kann eine Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren durchgeführt werden. Hierbei ist in rechtlicher und organisatorischer Hinsicht folgendes zu beachten:
- Der Beschuldigte darf nur festgenommen werden, wenn die Voraussetzungen eines Untersuchungshaftbefehls oder eines Hauptverhandlungshaftbefehls vorliegen (§§ 127, 127b StPO).
- Es gelten die allgemeinen Zuständigkeitsregeln; zuständig ist also grundsätzlich das Amtsgericht des Tatorts.
- Die Polizei hat die Staatsanwaltschaft unverzüglich telefonisch zu unterrichten und nach Absprache mit ihr das zuständige Gericht.
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In-Kraft-Treten
Diese Richtlinien treten am 1. September 2002 in Kraft.
MBl. NRW. 2002 S. 861