Historische SMBl. NRW.
Historisch: Bearbeitung sexueller Gewaltdelikte gegen Frauen RdErl. d. Innenministers v. 10. 7. 1989 - IV A 4 – 6503
Historisch:
Bearbeitung sexueller Gewaltdelikte gegen Frauen RdErl. d. Innenministers v. 10. 7. 1989 - IV A 4 – 6503
Bearbeitung sexueller Gewaltdelikte gegen
Frauen
RdErl.
d. Innenministers v. 10. 7. 1989 - IV A 4 – 6503
Allgemeines
In
den letzten Jahren sind sexuelle Gewalttaten gegen Frauen zunehmend in das Bewusstsein
der Öffentlichkeit gerückt. Untersuchungen belegen einen Widerspruch zwischen
der Schwere und den Folgen der Rechtsverletzung für die Opfer und der
Behandlung durch die Strafverfolgungsorgane.
Ziel
dieses Erlasses ist es, eine vorurteilsfreie, sachorientierte Ermittlungsarbeit
zu fördern, die auf die psychische Belastung der Opfer besondere Rücksicht
nimmt.
Mit
dieser Zielsetzung sind bei der Bearbeitung sexueller Gewaltdelikte gegen
Frauen folgende Grundsätze zu beachten:
1
Verhalten bei der Anzeigenerstattung
Tataufklärung
sowie Einstellung des Opfers zur Tat und ihren Folgen werden wesentlich von den
Erstkontakten mit der Polizei bestimmt. In dieser Situation sind
Einfühlungsvermögen und Zurückhaltung geboten.
Fahndungsmaßnahmen
sind mit Nachdruck einzuleiten. Das Opfer soll erkennen können, dass der
Einsatz der Polizei der Schwere des Delikts angemessen ist, und zwar auch dann,
wenn sich der Wahrheitsgehalt der Aussagen noch nicht beurteilen lässt.
Die
Erstbefragung des Opfers hat sich, auf den groben Sachverhalt, den Ort und den
Zeitpunkt der Tat sowie auf Hinweise zu Tätern, Zeugen und möglichen Tatspuren
zu beschränken.
Fragen
zu den persönlichen Verhältnissen des Opfers, zur Vorgeschichte der Tat und zu
Einzelheiten des Tathergangs sind zu diesem Zeitpunkt unnötig. Die Äußerung von
Zweifeln am Wahrheitsgehalt der Angaben oder Vorwürfe gegen das Opfer haben zu
unterbleiben. Es sollte auf die Möglichkeit hingewiesen werden, eine Person
seines Vertrauens zu benachrichtigen oder hinzuzuziehen.
Soweit
erforderlich, ist eine ärztliche Betreuung zu vermitteln; eine schnelle
Weiterbearbeitung durch das zuständige Kommissariat der Kriminalpolizei ist
sicherzustellen.
Beamte
und Beamtinnen, die mit Opferkontakten rechnen müssen, können Empfehlungen für
ein sachgerechtes Verhalten dem beiliegenden Merkblatt entnehmen.
Die
Polizeibehörden stellen sicher, daß der Inhalt dieses Merkblattes den
Polizeibeamten in geeigneter Weise, z. B. in Dienstbesprechungen, verdeutlicht
wird.
Das
Merkblatt ist von den Behörden mit den Anschriften anerkannter privater oder
öffentlicher Einrichtungen zu ergänzen, die sich der Betreuung von Opfern
sexueller Gewaltdelikte widmen.
2
Sachbearbeitung
Die
Bearbeitung sexueller Gewaltdelikte ist grundsätzlich speziell ausgebildeten
Sachbearbeitern/-innen zu übertragen. Mit dieser Aufgabe sind nur Beamte/-innen
zu betrauen, die sich durch vorurteilsfreie Haltung, Einfühlungsvermögen,
Toleranz und Gesprächsfähigkeit auszeichnen.
Frauen
als Opfer sexueller Gewalttaten sind ausdrücklich auf die Möglichkeit
hinzuweisen, sich - ggf. später - durch eine Frau vernehmen zu lassen. Die
Behörden stellen sicher, daß im Rahmen der personellen Möglichkeiten geschulte
Beamtinnen zur Verfügung stehen. Dabei sind auch Beamtinnen außerhalb der
zuständigen Kommissariate zu berücksichtigen. Bei Bedarf sind Absprachen mit
Nachbarbehörden zu treffen.
Bei
den Polizeibehörden ist ein Verzeichnis über die speziell ausgebildeten
Sachbearbeiter/-innen vorzuhalten, auf das jederzeit zurückgegriffen werden
kann.
3
Vernehmung des Opfers
Bei
der Vernehmung ist auf die seelische Ausnahmesituation des Opfers Rücksicht zu
nehmen. Daher ist eine Vernehmungssituation zu schaffen, die frei von äußeren
Störungen, Misstrauen und Vorwürfen ist. Durch verständnisvolle Haltung, Geduld
und Ruhe soll eine Atmosphäre des Vertrauens erreicht werden, die dem Opfer die
Schilderung der Tat erleichtert.
Auf
Wunsch des Opfers ist der Anwesenheit einer Person seines Vertrauens bei der
Vernehmung grundsätzlich stattzugeben. Steht aber das Opfer zu dieser Person in
einem Abhängigkeitsverhältnis, so ist in deren Abwesenheit zu klären, ob sie
bei der Vernehmung anwesend sein soll.
Opfer
sexueller Gewalttaten sollen darüber informiert werden, warum polizeiliche
Maßnahmen erforderlich und auch den Intimbereich berührende Fragen notwendig
sind. Auf die Möglichkeiten der Geschädigten nach dem Opferschutzgesetz ist
hinzuweisen.
Vernehmungen
des Opfers sind durchgehend von demselben Beamten/derselben Beamtin
durchzuführen. Ein Wechsel während der Vernehmung hat grundsätzlich zu
unterbleiben. Bei Folgevernehmungen sind dem Opfer die Gründe hierfür
darzulegen.
4
Weitere Maßnahmen
Grundsätzlich
ist von einer direkten Gegenüberstellung des Opfers mit Tatverdächtigen
abzusehen. Wahlgegenüberstellungen sind so durchzuführen, daß das Opfer von den
Teilnehmern nach Möglichkeit nicht gesehen wird.
Wahllichtbildvorlagen
sind mit Rücksicht auf das Opfer zeitlich zu begrenzen, um eine Überforderung
zu vermeiden.
Ist
eine intensive Spurensuche am Opfer erforderlich, sollte sie ihm erläutert
werden. Eine Beeinträchtigung der Intimsphäre ist möglichst zu vermeiden. Für
die Beweisführung bei körperlichen Verletzungen ist im Regelfall eine genaue
ärztliche Beschreibung ausreichend. Fotoaufnahmen vom Genitalbereich haben
grundsätzlich zu unterbleiben.
5
Aus- und Fortbildung
Die
Problematik sexueller Gewalt gegen Frauen und die Auswirkung polizeilichen
Verhaltens auf die Opfer wird in die polizeiliche Grundausbildung aufgenommen.
In
der Fachhochschulausbildung ist das Thema auf der Grundlage der aktuellen
wissenschaftlichen Erkenntnisse verstärkt in den Fächern
Kriminalistik/Kriminologie/Strafrecht/Psychologie zu behandeln.
Die
Leiter der zuständigen Kommissariate sowie die mit der Bearbeitung dieser
Delikte betrauten Sachbearbeiter/-innen der Kriminalpolizei werden in
speziellen Seminaren an der Landeskriminalschule mit dem aktuellen
Erkenntnisstand zu diesem Problembereich vertraut gemacht.
6
Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaften, Hilfsorganisationen und Ärzten
Die
Staatsanwaltschaft (Sonderdezernat für die Verfolgung von Straftaten gegen die
sexuelle Selbstbestimmung) ist zum frühestmöglichen Zeitpunkt in die
Ermittlungen einzuschalten.
Private
Selbsthilfeorganisationen leisten betroffenen Frauen sachkundige Hilfe bei der
Bewältigung der erlebten Krisensituation und der unvermeidlichen Belastung
durch das Ermittlungsverfahren. Die zuständigen Kommissariate haben mit diesen
Institutionen ständigen Kontakt zu halten.
Zur
Gewährleistung einer sachgerechten und opferorientierten Spurensuche und
-sicherung sind von den Behörden die Aufträge zu den notwendigen ärztlichen
Untersuchungen möglichst auf wenige medizinische Einrichtungen mit
entsprechendem Fachpersonal zu konzentrieren. Durch enge Kontakte mit diesen Einrichtungen
ist das Untersuchungspersonal über die kriminalistischen Beweisanforderungen zu
informieren. Diese Anforderungen sind vom Landeskriminalamt auf der Grundlage
des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes in dem als Anlage
beigefügten Merkblatt zusammengestellt worden.
7
Öffentlichkeitsarbeit
Polizeiliche
Öffentlichkeitsarbeit hat sich vorrangig an den Bedürfnissen der Opfer zu
orientieren. Sie ist insbesondere auf den Abbau von Vorurteilen und falschen
Vorstellungen vom „typischen" Vergewaltigungsdelikt, gegen
Schuldzuweisungen an die Opfer und verharmlosende Tendenzen in der
Berichterstattung zu richten. Sachverhalte sind wertungsfrei und hauptsächlich
fahndungsorientiert darzustellen. Der Schutz der Persönlichkeit des Opfers hat
Vorrang vor anderen Gesichtspunkten.
Sachkundige
Beamte/-innen der Kriminalpolizei sollten in ihrem örtlichen
Zuständigkeitsbereich verstärkt in entsprechenden Arbeitskreisen mitwirken und
sich an öffentlichen Diskussionen zu der Problematik beteiligen.
MBl. NRW.
1989 S. 1014, geändert durch RdErl. v. 8.2.1990 (MBl. NRW. 1990 S. 302).
Anlagen: